Deutsches Fernsehen:Der bewegte Mann

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Vor 40 Jahren hat Peter Rüchel den "Rockpalast" und die dazugehörigen Konzertnächte erfunden, Klassiker des Jugendfernsehens. Nun wird er 80 und sieht sein Lebenswerk noch nicht am Ende.

Von Hans Hoff

Wenn man sich in Peter Rüchels Welt begibt, kommt man sich sehr bald vor wie in einer Märchenstunde. Zumindest wenn der gebürtige Berliner vom WDR erzählt, wo er Jahrzehnte angestellt war. Dann ist rasch die Rede von großen Freiheiten und schnell gefällten Entscheidungen, von Mut und Innovationslust. Das Beste daran ist, dass all seine Geschichten wahr sind. Das Schlechte daran ist, dass die meisten davon in grauer Fernseh-Vorzeit spielen.

Rüchel ist als Wegbereiter des deutschen Jugendfernsehens alt geworden, ein Urgestein. Er hat den Rockpalast erfunden und die dazugehörigen Rocknächte. Am 23. Juli jährt sich zum 40. Mal der Abend, an dem Rory Gallagher 1977 mit seiner abgewetzten Stratocaster die Bühne der Essener Grugahalle enterte und sie erst gut 90 Minuten später wieder schwitznass verließ. Danach spielten Little Feat und Roger McGuinn komplette Konzerte bis tief in die Nacht, und der WDR übertrug das alles live, nicht nur ins erste Programm, sondern gleichzeitig auch ins Radio und via Eurovision in diverse europäische Länder.

Zum 40. Jahrestag will Rüchel vielleicht eine größere Feier ausrichten. Dafür soll es diesen Donnerstag eher ruhiger zugehen, wenn er in kleinem Kreis seinen 80. Geburtstag feiert. Rüchel will nicht, dass so viel Getöse um ihn gemacht wird; er hat es lieber, wenn das Getöse auf der Bühne stattfindet.

Er übt sich demonstrativ in Bescheidenheit, wenn man ihn in seinem Leverkusener Arbeitszimmer besucht. Bis zur Decke strecken sich die CD-Regale, und wenn er aus seinem Fenster schaut, kann er im Westen nachts die Umrisse des über dem Chemiewerk leuchtenden Bayer-Kreuzes sehen. Hinter dem Haus donnert im Osten die A 3. Rüchel sitzt mittendrin im Trubel und hat es doch sehr ruhig. Das passt zu seiner Geschichte, wo er auch oft der Ruhepol im Auge des Sturms war. Den alten Indianer nannten sie ihn wegen seiner strähnigen Haare schon früh, aber das passte auch, weil er so stoisch und zäh wirkte und sich selten beirren ließ.

Wenn Rüchel redet, sprudeln Namen und Daten nur so aus ihm heraus. Man spürt rasch, wie wenig neu es ist, dass sich Sendergewaltige Gedanken machen, wie sie die Jugend ans Programm binden können. So wollte man schon 1970 beim ZDF etwas für junge Menschen tun und holte Rüchel von Berlin nach Mainz. Dort entwarf er mit Kollegen das Format Direkt, bevor im Jahre 1973 der WDR anrief und Rüchel fürs hauseigene Jugendprogramm wollte.

Auch in Köln hatte man gemerkt, dass man mit gediegenen Unterhaltungsshows und der Übertragung von Theateraufführungen um 20.15 Uhr nicht als erste Wahl bei jungen Menschen galt. Rüchel überlegte, was fehlte und schuf gemeinsam mit dem Regisseur Christian Wagner eine halbstündige Sendung mit Musik, den Rockpalast. Man holte Procol Harum und Eric Burdon in eher kleine WDR-Studios, ließ sie ein komplettes Konzert spielen und sendete später eine halbe Stunde daraus.

Die räumliche und die zeitliche Begrenzung auf 30 Minuten wurmte die Rockpalast-Macher. Sie merkten, dass sie damit dem Geist eines echten Konzerts nicht gerecht wurden. Also setzten sie sich im August 1976 zusammen, hörten laut Musik und überlegten, wie man dem Missstand abhelfen könne. Sie kamen auf eine sehr spinnert anmutende Idee. Wie wäre es, wenn man eine Konzertnacht selbst veranstalten und eine ganze Nacht live übertragen würde? Ins Fernsehen, ins Radio - und das europaweit.

"Wir haben ins ganz Große gedacht", erinnert sich Rüchel. Am nächsten Arbeitstag marschierte er zu seinem Vorgesetzten, trug dem die Spinnereien vor, und der sagte: "Wissen Sie, Peter, das ist eine sehr gute Idee." Kurz danach war das pro Rocknacht 500 000 Mark teure Projekt genehmigt. "So wurde damals entschieden", sagt Rüchel und kann sich dabei ein leichtes Lächeln nicht verkneifen.

Die Rockpalast-Nächte waren wildes Fernsehen, der Gegenentwurf zu einem penibel durchgeplanten Programm. Man wusste nie vorher, in welchem mentalen Aggregatzustand die Musiker am Bühnenrand auftauchen würden. Nicht selten drohte die Situation aus dem Ruder zu laufen, und Rüchel war die zentrale Person, wenn es darum ging, die Dinge auf Kurs zu halten. Mitch Ryder etwa rückte sternhagelvoll an, vermasselte ein Interview, und der stark angesäuerte Rüchel war heilfroh, als der US-Sänger endlich auf der Bühne stand. Als er später die Aufnahmen abhörte, stellte sich heraus, dass Ryder eines der spannendsten Konzerte der Rockpalast-Geschichte abgeliefert hatte. Heute ist Rüchel mit Ryder befreundet.

Die Rocknächte wurden zur Institution - und damit Teil der persönlichen Sozialisation: Viele, die heute zwischen Mitte 50 und 70 sind, richteten sich bei Rockpalast-Partys in Schlafsäcken vor dem Fernseher ein und hielten durch, bis der Morgen graute.

Allerdings wurde bald deutlich, dass der Rockpalast vor allem auf dem Humus des Mangels seine Erfolge feierte. Als Musik leichter verfügbar wurde, als MTV aufkam und die ARD in Formel Eins eine Clipshow installierte, sank der gute Stern über dem Rockpalast. Mitte der 80er-Jahre verschwand die Marke im Archiv.

Rüchel wurde Musikredakteur in der Kulturabteilung, aber als die Marke Rockpalast in den Neunzigern wiederbelebt wurde, mischte er erneut mit. Allerdings hatte sich das Konzept stark verändert. Man veranstaltete nur noch selten selbst, man legte die Marke auf bereits geplante Konzerte. 2003 wurde Rüchel dann pensioniert, kümmerte sich aber als Berater weiter um sein eigenes Vermächtnis.

"Ich habe ein großes Gefühl der Dankbarkeit", sagt er mit Blick auf sein Lebenswerk, das er noch nicht am Ende sieht. Ab und an geht Rüchel in kleinen Klubs auf die Bühne und erzählt aus seinen vielen bewegten Jahren. Es werden immer lange Abende. "Ich bin so schwer zu stoppen", entschuldigt er sich.

Nach seinem 80. will er wieder ins Fitnessstudio, ein bisschen was für die Gelenke tun, denn das Gehen fällt ihm bisweilen schwer. Das passt irgendwie zu seiner Musik, zum Rock, der auch in die Jahre gekommen ist, der vielleicht bald stirbt, wohl spätestens, wenn jene, die ihn in ihrer Jugend als Vitalitätselixier eingesogen haben, von der Lebensbühne abtreten. Aber so etwas nimmt einer wie Rüchel nicht hin. Er will noch was. Da geht noch was.

© SZ vom 07.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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