Hörfunk:Post von Häschen

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Das RIAS-Gebäude in der Kufsteiner Straße, nicht weit entfernt vom Schöneberger Rathaus. 1993 hat RIAS Berlin den Sendebetrieb eingestellt. (Foto: Hubert Link/dpa)

Jeden Sonntag ein Rätsel: Christian Bienert pflegt die letzte Rias-Sendung - die sein Freund Hans Rosenthal erfand.

Von Stefan Fischer

Dieser Text ist am 22. Februar 2006 in der Süddeutschen Zeitung erschienen. Anlässlich des Todes von Christian Bienert veröffentlichen wir den Text erneut.

"Hans Rosenthal hat Das Klingende Sonntagsrätsel vor 22 Jahren ins Leben gerufen. Wer Hans kannte, der weiß: Sein Motto war The show must go on. Deshalb wollen wir ihm zum Gedenken diese kleine Sendung weiterführen." (Christian Bienert am 15. 2. 87 im Rias)

Christian Bienert hat sie tatsächlich bis heute weitergeführt, die kleine Radio-Sendung aus Berlin, die bereits 1965 startete, vor mehr als 40 Jahren also. Und weil er eben erst 58 geworden ist und "das Rentenalter demnächst wohl auf 67 angehoben wird, werde ich Das Sonntagsrätsel noch weitere zehn Jahre moderieren", sagt der Redakteur froh gelaunt.

Dabei sollte die Sendung nur ein paar Wochen laufen. Der Rundfunk im amerikanischen Sektor Berlins, der Rias, wollte mittels Zuschriften für Das Klingende Sonntagsrätsel lediglich ermitteln, wie verbreitet das Programm in Oberfranken ist, wo er auch Sendeanlagen betrieb.

Der Rias bekam vom 7. März 1965 an aber nicht nur Post aus Franken, sondern - viel aufregender - auch aus der DDR. Am Mikrofon verabschiedete sich Hans Rosenthal deshalb bald mit den Worten: "Unsere Hörer in Mitteldeutschland und Ost-Berlin können sich selbstverständlich auch am kleinen Ratespiel beteiligen, sei es direkt oder über eine Hilfsadresse." Rosenthal war es, der die Ratesendung erfunden und - obwohl er zwischenzeitlich als Unterhaltungschef des Rias gekündigt hatte - auch bis kurz vor seinem Tod am 10. Februar 1987 moderiert hatte.

Testsignal nach Osten

Das Klingende Sonntagsrätsel erklang auch weiterhin, Christian Bienert übernahm die Sendung. Das war keine Selbstverständlichkeit: Im ZDF etwa überlebte Rosenthals Spielshow Dalli Dalli ihren Erfinder nicht, trotz eines Reanimationsversuchs durch Andreas Türck. Bienerts sonntägliches Rätsel ist eines der ältesten Unterhaltungsformate im deutschen Radio, ein Evergreen in einem Medienmarkt, den Einheitspop, Staumeldungen und dröge Witzigkeiten dominieren.

Bienert ist ein anderer Typ als es Rosenthal war, mit dessen Witwe er befreundet ist. Er wirkt stärker in sich ruhend. Trüge er nicht seinen lichten Vollbart, sähe er Günter Netzer sehr ähnlich. Auch in der Art, wie er Dinge auf den Punkt bringt, präzise und doch leidenschaftlich, ähnelt er dem Fußballer. Und seine Brille hätte sogar Steve McQueen in The Getaway oder Robert Redford in Die drei Tage des Condor zur Ehre gereicht. Sie ist Ausdruck einer lässigen Selbstsicherheit, die auf Understatement gründet. Und die sich vor das "Hibbelige und Flirrige" schiebt, das der Hobby-Kryptologe an sich selbst diagnostiziert. In seiner Freizeit liest Bienert viel über Entschlüsselungs-Methoden. Selbst Codes zu knacken, "dafür reicht es bei mir aber nicht."

Bereits seit 1969 oder 1970, genau kann er sich nicht erinnern, schrieb Bienert für Rosenthal Texte und suchte Musikstücke aus. "Hans stand auf dem Führerstand, ich schippte Kohle. Er hatte eine gewaltige Geduld mit mir", erinnert sich Bienert. Nach Rosenthals Tod gewöhnten sich die Zuschauer dann an seine sonore Stimme.

Die größte Gefahr für den Fortbestand der Sendung dämmerte erst 1994. Damals fusionierten der Rias und der aus dem Rundfunk der DDR hervorgegangene Deutschlandsender Kultur zum Deutschlandradio. Erst einmal strahlte der alte Westsender morgens und mittags das Beste aus seinem Programm aus, nachmittags und abends funkte der ehemalige Ostsender seine Höhepunkte. Unter einem nationalen Hörfunkprogramm hatte man sich etwas anderes vorgestellt. Deshalb wurde radikal reformiert, alle bisherigen Sendungen flogen aus dem Programm - bis auf Das Klingende Sonntagsrätsel. Nur das Adjektiv hat man dem Ratespiel bei dieser Gelegenheit genommen. So löst Christian Bienert weiterhin Sonntag für Sonntag nach den Zehn-Uhr-Nachrichten das zwei Wochen zuvor gestellte Rätsel auf, und anschließend spielt er jene sechs Melodien, die zusammen mit seinen Moderationen Hinweise auf das neue Lösungswortes geben.

Es geht beim Sonntagsrätsel nicht um Besserwisserei. Die Hörer müssen nicht Weiß Ferdl als Interpreten der Linie 8 erkennen, sondern Bienert fragt nach dem bürgerlichen Namen des musikalischen Humoristen - den kann man nachschlagen. Bienert weiß von den vielen Zuschriften, dass er Generationengespräche in Gang bringt und in Familien die Toleranz gegenüber einem anderen Musikgeschmack erhöht. Er weiß auch von Nachbarn, die seiner Sendung wegen gemeinsam frühstücken und dabei rätseln. Das Ratespiel ist ein Ritual. Bienert: "Ich bin ein bisschen wie jemand, der jeden Sonntag nach Hause zu Besuch kommt."

Er ist andererseits keiner von diesen berufsmäßigen Gutelaunehabern, wie es so viele gibt im Radio. Christian Bienert ist höflich, überaus freundlich und sehr verbindlich. Sein Büro ist eine Katastrophe. Kistenhoch stapelt sich Post. Eine Kollegin sichtet die Schreiben und sortiert sie zu neuen Stößen. Bienert beantwortet die besonderen Zusendungen, schriftlich oder am Telefon, und heftet fleißig ab, damit er Briefe nach Monaten auch wiederfindet, wenn er sie für seine Moderationen braucht.

Es ist ja nicht so, dass die Leute nur das Lösungswort in das U-förmige, während des Zweiten Weltkriegs gebaute Funkhaus im Stadtteil Schöneberg schicken. Manche führen Buch und schreiben die Antworten Woche für Woche in ein Heft. Wenn das voll ist, schicken sie es zum Deutschlandradio an den Hans-Rosenthal-Platz. "Das ist rührend", sagt Bienert. Solche Menschen ruft er an. Manchmal bringt er auch Hörer zusammen, weil er weiß, dass der eine etwas hat, was ein anderer sucht, eine rare Musikaufnahme etwa. "Das Sonntagsrätsel ist ein legitimer Vorwand, um an die Hörer heranzukommen", sagt Bienert. "Aber das Verhältnis muss eine dauerhafte menschliche Brücke sein, es darf sich nicht in einem Gewinnspiel erschöpfen."

Im Winter 1989/90 hat Christian Bienert mit seiner Sendung etwas Unglaubliches erlebt: Für eine kurze Zeit wurde er zur Anlaufstelle Tausender Hörer, für die sich eine Mauer geöffnet hatte. Das hängt wahrscheinlich ebenfalls damit zusammen, dass er für so viele Menschen den Rias personifizierte und, obgleich er für einen Sender arbeitet, ein so guter Empfänger ist, ein so aufmerksamer Zuhörer.

Das Sonntagsrätsel war für den alten Rias nicht zuletzt ein Fenster in den Osten gewesen: Sechs Prozent der Zuschriften kamen aus der DDR. Wenige schrieben ihren Absender unverblümt auf einen Brief. Andere sandten die Lösung anonym, viele nutzten Hilfsadressen von Verwandten und Bekannten im Westen. Einige Monate nach Rosenthals Tod hatte Bienert sogar eine Frau namens Michaela Wegener erfunden. Eine Adresse bekam sie auch: West-Berlin, Torgauerstraße 45. Die Chance, dass die Stasi Briefe an diese Deckadresse durchschlüpfen ließ, war größer als bei Schreiben, die an den Rias adressiert waren.

Der magische Wendewinter

"Das meiste kam aber wohl nicht an", glaubt Bienert. Vor fünf Jahren hat ihm die damalige Gauck-Behörde zwei Koffer abgefangener Briefe übergeben - ein kleiner Überrest dessen, was sich in den Schleppnetzen der Schnüffler verfangen hatte. Bienert las und las, die alten Kennwörter tauchten wieder auf: Das Sonntagsrätsel verlost kleine Preise - Bücher, Schallplatten, CDs -, und wenn Bienert früher unter den Gewinnern ein "Häschen" aufführte oder "Rübezahl", dann erfuhren Menschen in Eisenhüttenstadt beziehungsweise Rostock auf diese Weise, dass sie ausgelost worden waren.

Im Spätherbst 1989 aber fing niemand mehr die DDR-Post ab. 12 000 Briefe bekam das Sonntagsrätsel im September, davon 500 aus der DDR. Im Januar 1990 waren es schon 155 000 Zuschriften - davon 126 000 aus dem Osten. Die Zahl verdoppelte sich bis März nochmal, neun von zehn Briefen kamen nun aus der DDR. Den Hörerpostrekord für eine einzige Sendung brachte das Rätsel vom 18. Februar 1990 - mit 71 992 Zuschriften. Nach ein paar Monaten war der alte Pegel wieder erreicht, wie heute noch schreiben seither jede Woche 600 bis 1800 Menschen an Das Sonntagsrätsel.

In diesem magischen Winter 1990 aber fuhren immer wieder Menschen mit einem Strauß Blumen in die Torgauerstraße und suchten nach der Hausnummer 45, die es freilich nie gegeben hat. Und doch sind diese Menschen keiner Illusion nachgehangen.

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