"Wie ich euch sehe" zu Rettungsassistentin:"Ein Mensch ist gestorben und wir fahren zum Essen"

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Erlebt oft emotionale Situationen: Rettungsassistentin Charlotte S. (Foto: Illustration Jessy Asmus für SZ.de)

Wenn man sie ruft, muss alles ganz schnell gehen. Eine Rettungssassistentin erzählt von dem täglichen Balanceakt zwischen Routine und Mitgefühl.

Protokoll: Hans von der Hagen

In unserer Serie "Wie ich euch sehe" kommen Menschen zu Wort, mit denen wir täglich zu tun haben, über die sich die meisten von uns jedoch kaum Gedanken machen: eine Polizistin, ein Zahnarzt, eine Kassiererin oder ein Stotterer. Sie teilen uns mit, wie es ihnen im Alltag ergeht, wenn sie es mit uns zu tun bekommen - als Kunden, Patienten, Mitmenschen. Diesmal erzählt die Rettungsassistentin Charlotte S. von ihrem Alltag. Sie ist 20 Jahre alt und arbeitet seit drei Jahren im Rettungsdienst. Gerade hat sie zudem ein Medizinstudium begonnen.

Ihr denkt vielleicht, dass uns alles egal ist. Jeden Tag so viele Unfälle. Und die Toten. Aber das stimmt nicht. Ich weiß noch, wie ich in einem meiner ersten Rettungsdienste zusammen mit einem Kollegen zu einer Reanimation gerufen wurde. Wir gingen in die Wohnung, im Bett lag eine ältere Frau. Wir hoben sie heraus und fühlten schon bei den ersten Wiederbelebungsversuchen, dass sie vor Stunden verstorben sein musste. Doch ein Rettungsassistent darf den Tod nicht feststellen, das kann nur der Arzt. Der aber war noch nicht da, und so mussten wir unser Programm durchziehen, obwohl uns klar war, dass das auf gar keinen Fall zu irgendeinem Erfolg führen würde.

Als der Notarzt kam, wurde entschieden, die Frau wieder ins Bett zu legen, zuzudecken und zur Leichenschau freizugegeben. Damit war für uns der Einsatz beendet. Ja, äußerlich bin ich routiniert mit dem Tod umgegangen. Aber die kleine Enkeltochter der verstorbenen Frau stand während des Einsatzes die ganze Zeit in der Tür und sagte, dass sie zur ihrer Oma wolle. Sie hat geweint und die Situation vermutlich verstanden, aber sie konnte es trotzdem nicht fassen. Die ganze Familie war anwesend, die Atmosphäre war extrem emotional und sehr berührend.

Als wir zurück zum Rettungswagen gingen und die Sachen verstauten, dachte ich: Wir desinfizieren unsere Geräte und packen alles zusammen, unser Tag geht weiter. Doch für diese Familie hat sich gerade das Leben verändert. Da ist ein Mensch gestorben - und wir fahren zum Essen.

Zwischen Routine und Mitgefühl

Diese Szene rufe ich mir manchmal in Erinnerung und versuche, daran zu denken, dass es für andere nicht normal ist, einen Verstorbenen zurückzulassen. Ähnlich ist es bei einem Herzinfarkt. Ich sehe an manchen Tagen zehn betroffene Personen, aber wen er ereilt, für den ist es meist der erste. Ich denke, die Herausforderung an meinem Beruf ist, das Gleichgewicht zu finden. Indem man sich nicht bei jedem Patienten Gedanken über sein Schicksal macht, und doch jeden Einsatz als eine neue Aufgabe sieht.

Bei unseren Einsätzen profitieren wir von drei Faktoren: Wissen, Routine und Handlungsfähigkeit, z. B. durch Geräte und Medikamente. Passanten, die weniger oder gar nicht routiniert sind im Umgang mit Notfallsituationen, können darauf nicht zurückgreifen und sind manchmal überfordert. Doch auch wenn es Mut kostet, Hilfe zu leisten: Bitte tut euer Möglichstes! Auch wenn ihr Angst vor Blut, unschönen Bildern, fremden Personen oder davor habt, etwas kaputt zu machen. Wenn das nicht geht, dann wählt zumindest die 112. Das ist besser als nichts.

Man weiß nie, was als Nächstes kommt

Eine der aufregenden Seiten an dem Job ist: Man weiß nie, was einem als Nächstes bevorsteht. Für uns Rettungssanitäter wäre es daher fatal, sich auf die Routine zu verlassen und mit festen Vorstellungen zum Einsatzort zu fahren.

Vor ein paar Wochen wurden wir wegen unstillbaren Nasenblutens gerufen. Ich hatte sofort das Übliche vor Augen - ältere Frau mit Bluthochdruck. Wie sich herausstellte, handelte es sich um ein vierjähriges Mädchen und seine sehr besorgten Eltern. In dem Fall war es nicht gravierend, mitunter kann es aber gefährlich sein, nur an eine Lösung zu denken und dann nicht vorbereitet zu sein. Genauso ist es mit bestimmten Locations. Wenn man zum Beispiel die Adresse einer Disco oder Kneipe bereits zum dritten Mal im Nachtdienst anfährt, rechnet man mit einer bestimmten Patientenklientel. Womöglich handelt es sich aber genau dann nicht um einen Alkoholexzess, sondern um einen Schlaganfall.

Oft erlebe ich aber auch Situationen, in denen ich mir wünsche, dass die Leute ihren gesunden Menschenverstand einsetzen. Mir ist klar, dass niemand die 112 wählt, wenn er nicht hilflos oder zumindest unsicher ist. Aber nur mal als Beispiel: Wenn ich mir als Kind den Kopf gestoßen habe oder von der Schaukel gefallen bin, dachte niemand daran, einen Rettungswagen zu rufen, nur weil der Ellbogen wehtat oder ich eine Beule hatte. Meine Eltern packten dann einen Eisbeutel auf die Wunde und warteten erst mal ab. Heute wird dann oft der Krankenwagen gerufen.

Im Übrigen sind wir kein Taxiunternehmen. Ich habe schon erlebt, dass ein Patient sich den Fuß in der Tür eingeklemmt hat und mir hüpfend an der Tür entgegenkam. Die Angehörigen saßen dabei, als wir den Fuß untersuchten und feststellten, dass er geröntgt werden muss. Einer von ihnen sagte: "Gut, ich fahre mit dem Auto hinterher." Da denke ich mir schon: Das hättest du auch gleich machen können. Der Rettungswagen scheint für manche einfach die bequemere Lösung zu sein. Doch damit ist ein Rettungsmittel blockiert, das an anderer Stelle vielleicht dringend benötigt wird.

Umgekehrt gibt es natürlich auch solche, die zu spät handeln. Der 60-Jährige zum Beispiel, der Übergewicht und Diabetes hat: Seit drei Tagen quält er sich mit Brustschmerzen und Atemnot herum, unternimmt aber nichts - vielleicht aus Unwissenheit, vielleicht aus Verdrängung. Erst am dritten Tag, wenn er es nicht mehr aushält, ruft er uns und erfährt, dass er einen Herzinfarkt hatte. Statt einfach rechtzeitig einen Arzt aufzusuchen.

Jede Minute zählt

Manchmal wundert ihr euch vielleicht, warum ein Krankenwagen zum Beispiel auf dem Parkplatz eines Supermarktes herumsteht. Wir machen da keinen Großeinkauf, sondern wurden von der Leitstelle dort platziert. So wird gewährleistet, dass innerhalb von zehn Minuten 85 Prozent aller Bereiche des Landkreises erreicht werden können, wenn ein anderes Fahrzeug gerade im Einsatz ist.

Ist es dann schließlich so weit, muss es schnell gehen: Jede Minute zählt, vom Eingang des Notrufs bei der Leitstelle bis zum Erreichen der Klinik und der weiteren Behandlung des Patienten.

Daher eine große Bitte: Die Anfahrt zum Unfallort kann sehr stressig sein. Manche Autofahrer bleiben einfach in der Kurve stehen, wo man sie beim besten Willen nicht überholen kann. Und auf Autobahnen hilft es enorm, wenn es eine Rettungsgasse gibt. Das klappt leider oft gar nicht. Dabei ist es so einfach: Die Autos auf der Überholspur fahren ganz nach links, die übrigen ganz nach rechts und falls es eine Mittelspur gibt, hält die sich auch rechts. Dann kommen wir super durch.

Jeder geht anders damit um

Gerade in der ersten Zeit im Beruf fiel es mir schwer, zu akzeptieren, dass man nicht jedem helfen kann. Wenn wir als Kollegen zusammensitzen, sprechen wir natürlich öfters mal über die Einsätze. Das hilft, manches besser zu verarbeiten. Oder wir amüsieren uns über skurrile Einsätze, wenn etwa beim Sex etwas schiefging. So ein feststeckender Vibrator ist aber auch tückisch ...

Wenn ich erzähle, dass ich im Rettungsdienst arbeite, dann erfahre ich oft Begeisterung und Neugier, eigentlich genau das, was auch ich für den Beruf empfinde. Klar, man hat immer Geschichten zu erzählen, die spannend und unglaublich klingen. Für jemanden, der einen Rettungswagen immer nur an sich vorbeidüsen sieht, klingt das nach 100 Prozent Action und Held-Sein. Doch es gibt auch Schattenseiten, mit denen jeder anders umgeht.

Nicht jeder verpackt es in fantastische Erzählungen, der Nächste verdrängt es vielleicht und schweigt. Mir tut es gut, über Einsätze zu reden - mit Freunden, Familie und Kollegen. Und wenn ich Bilder nicht vergessen kann, schreibe ich sie auf. Genau wie die Bücher sich mit beschriebenen Seiten füllen, wächst man an seinen Erlebnissen.

Wie nehmen Sie die Menschen wahr, mit denen Sie sich aufgrund Ihrer Lebenssituation oder Ihres Berufes tagtäglich auseinandersetzen? Was wollten Sie schon immer einmal loswerden? Senden Sie ein paar Sätze mit einer kurzen Beschreibung Ihrer Situation per E-Mail an: leben@sueddeutsche.de. Wir melden uns bei Ihnen.

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