Weihnachten:Diese Besinnlichkeit ist ansteckend

Lesezeit: 2 min

Eine soziale Organisation veranstaltet eine Weihnachtsfeier für Kinder aus schwierigen Verhältnissen in Mumbai: Vom Fest geht weltweit eine integrative Kraft aus. (Foto: dpa)

Man muss kein Christ sein, um an Weihnachten mit der Familie zu feiern. Denn dieses Fest bietet eine Gelegenheit, die einfach zu wertvoll ist, um ignoriert zu werden. Es bleibt ein Rätsel, wieso das so vielen so wenig bewusst ist.

Kommentar von Gökalp Babayigit

Jedes Jahr im Dezember setzt die große Binnenwanderung in Deutschland ein. Millionen Christen (oder christlich Sozialisierte) verlassen Büro, Fabrik oder Hörsaal, um für ein paar Tage bei ihrer Familie das Weltgeschehen zu ignorieren. Das Interessante aber ist: An der großen Wanderung nimmt inzwischen auch ein beträchtlicher Teil der muslimischen Einwanderer teil. Denn Weihnachten bietet eine Gelegenheit, die zu wertvoll ist, um ignoriert zu werden.

In dieser pluralistischen Gesellschaft in Deutschland, mit all ihren kontroversen politischen Denkweisen, Lebensentwürfen und Ansichten ist Weihnachten das jährliche Ritual, auf das sich immer noch die allermeisten Bürger einigen können. Der größte gemeinsame Nenner. Dass sich an diesen Feiertagen die Welt etwas langsamer zu drehen scheint, merken dann jene am besten, die diesen Anlass für Entschleunigung per se nicht haben, für die es keine Veränderung des bisherigen Tempos gibt.

Nicht nur die meisten der neu angekommenen Flüchtlinge, sondern auch die vier Millionen Menschen muslimischen Glaubens, die in zweiter, dritter, vierter Generation hier leben, bekommen besonders im Dezember von der breitestmöglichen Mehrheit vorgelebt, was ihr als Herzstück christlich-abendländischer Kultur gilt. (Dass auch die unseligen Pegidisten am Montag in Dresden "O du fröhliche" gesungen haben, entwertet dies nicht.) Es bleibt auch für hier aufwachsende Muslime ein Faszinosum, welch identitätsstiftende Kraft ein paar Tage im Jahr für eine Gesellschaft haben können. Und es bleibt ein Rätsel, wieso das so vielen Entschleunigten so wenig bewusst ist.

Denn dieser Kraft sind seit Längerem keine religiösen Grenzen mehr gesetzt. Immer mehr muslimische Familien in Deutschland haben damit angefangen, Weihnachten einfach mitzufeiern - umgeben von dieser besonderen Stimmung und fröhlich kapitulierend. Sie konzentrieren sich dabei auf das in ihren Augen Wesentliche: Sie schenken sich gegenseitig das wertvolle Gut namens Zeit. Sie verbringen die Feiertage im Kreis ihrer Angehörigen. Weihnachten hat schon längst begonnen, nicht mehr nur ein Fest der Christen für Christen zu sein.

Ein Paradoxon ist, dass Weihnachten umso umspannender wird, je niedriger die Zahl der Christen in Deutschland wird. Die Zahl der Kindstaufen nimmt jährlich ab, die Zahl der Kirchenaustritte steigt dafür weiter stetig an. Die Pfarrer predigen nur noch an wenigen Tagen im Jahr in wirklich vollen Gotteshäusern. Die Menschen praktizieren ihre Religion immer weniger. Einher geht damit aber noch etwas anderes: Sie verdrängen diese Religion, ja überhaupt religiöse Themen, aus ihren Köpfen - wo sie doch ein informiertes und aufgeklärtes Verhältnis zur Religion haben sollten. Wie sonst wollen sie die Konflikte wenigstens verstehen, die immer mehr Eiferer zwischen den Religionen heraufbeschwören wollen?

Auch Weihnachten ist längst zuvörderst ein Familienfest; seinen biblischen Bezug scheint es immer mehr zu verlieren. Diese Entwicklung ist ebenso bedauernswert wie unumkehrbar. Aber einen positiven Nebeneffekt hat sie doch: Für einen Muslim nämlich hat sich dieses Fest vor allem deshalb geöffnet, weil es sich immer weiter von jener Religion entkoppelt hat, die ja nicht die eigene ist. Weil es eben vor allem das geworden ist, was jenseits aller Religionen doch so bedeutsam ist: ein Fest der Nächstenliebe. Genau diese Besinnlichkeit ist ansteckend. Mutlu Noeller also, frohe Weihnachten! Denn diese Tage haben eine enorme integrative Kraft.

© SZ vom 24.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: