Sexismus-Debatte:Mannomann

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Man glaubt es kaum: Auch Männer finden Männer manchmal zum Kotzen. Weil sie vulgäres Zeug reden. Weil sie schlechte Manieren mit Männlichkeit verwechseln. Trotzdem gilt auch in der aktuellen Sexismus-Debatte: Täter sind immer nur die Männer. Weil sie Männer sind. Was für ein Quatsch.

Von Marc Felix Serrao

Der erste Angriff kommt kurz nach Weihnachten 2006. Ein Faustschlag ins Gesicht, plötzlich und unerwartet. In dem Streit davor ging es um eine Lappalie; die Frage, wie viel Aufmerksamkeit man einem Menschen außerhalb der eigenen Beziehung schenken darf. Die Entschuldigung für das zugeschwollene Auge am nächsten Tag im Büro: ein Unfall. Da war eine Tür im Weg. Was in den nächsten Monaten folgt, ist dann allerdings kein Unfall, sondern Sadismus in Serie: Kochwasser, das über dem Intimbereich ausgekippt wird. Angriffe mit einem Bügeleisen, einem Hammer, Küchenvasen, brennenden Zigaretten.

Insgesamt, schätzt das Opfer, das schließlich kurz davor ist, sich aus Angst und Scham des Leben zu nehmen, sind es um die hundert Übergriffe, die Narben am ganzen Körper hinterlassen. Am gravierendsten ist die letzte Attacke, kurz bevor die Nachbarn die Polizei rufen. Die Brüche der Nase und des Kiefers sind so kompliziert, dass das Gesicht des Opfers chirurgisch "rekonstruiert" werden muss.

Keine Frage, an diese Beziehung wird sich der Brite Ian McNicholl sein Leben lang erinnern - auch dann noch, wenn seine Ex-Freundin Michelle ihre siebenjährige Gefängnisstrafe für "grievous bodily harm" schon abgesessen hat.

Der Mann als Opfer, die Frau als Täterin. Das klingt so schräg, so gegen jede Erfahrung, dass man es kaum glauben mag. Doch die Geschichte ist wahr, und sie ist kein Einzelfall. Wer über Sexismus spricht, der darf von sexueller Gewalt nicht schweigen, das sagen viele Frauen, die in diesen Tagen mit einem "Aufschrei" im Netz die Erfahrungen, die sie mit übergriffigen Männern gemacht haben, teilen. Die Debatte hat gerade erst begonnen, und sie ist noch recht ungeordnet. Nur auf eines haben sich die Beteiligten schon geeinigt. Als Täter - egal, ob es um eine dumme Anmache oder Handgreiflichkeiten geht - kommen einzig und allein Männer in Frage.

Das Problem mit dieser Wahrnehmung ist, dass sie eine an und für sich erfreuliche Debatte über den respektvollen Umgang zwischen Frauen und Männern von Anfang an verzerrt. Sexismus, so die Lesart von "Günther Jauch" bis Bild, das ist, wenn, dann etwas, das Männer Frauen antun. Etwa, indem sie ein soziales Machtgefälle - zwischen Professor und Studentin oder zwischen Chef und Sekretärin - ausnutzen, um ungestraft zu baggern und zu grapschen. Oder in der Öffentlichkeit, wie der bedauernswerte Kandidat Brüderle mit seinem Hängekinn und Hang zur Weinkönigin: durch Blicke und Sprüche.

Männer in Sippenhaft des Verdachts

Die eine Folge dieser Festlegung ist, dass sie alle Männer in eine Sippenhaft des Verdachts nimmt, auch jene, die genauso angewidert vom Verhalten mancher ihrer Geschlechtsgenossen sind wie die betroffenen Frauen. Die andere Folge ist die, dass Männern der - zugegeben seltene, aber eben nicht frei erfundene - Status von Opfern sexueller Übergriffe verwehrt bleibt.

Sechzigtausend! Diese Zahl von Tweets zum Thema wurde von Alice Schwarzer und der Twitter-Aktivistin Anne Wizorek bei Günther Jauch immer wieder genannt. Sechzigtausend! So viele Frauen hätten sich zum Zeitpunkt der Sendung am Sonntagabend bereits im Netz zu Wort gemeldet. Sechzigtausend Frauenschicksale! Sechzigtausend Männerverbrechen!

Das erste, was man feststellt, wenn man mehr als nur ein paar Minuten in der Mittagspause mit den vielen Tweets und Blogeinträgen zu diesem Thema verbringt, ist, dass der vermeintliche und auch von vielen Journalisten ungeprüft nachgeplapperte Aufschrei im Chor in Wahrheit ein Gebrüll ohne Takt und Melodie ist. Da kritisieren Frauen Männer für sexistische Übergriffe. Da werfen Frauen anderen Frauen deren Wehrlosigkeit und die damit verbundene Reproduktion einer "rape culture" vor. Da entschuldigen sich Männer kleinlaut dafür, dass sie Frauenpos mögen und Pornos schauen, während andere für die Debatte nur Spott übrig haben: "Holland hat wieder einen König! Eat this #aufschrei #femtaliban #geschrei #trockenpflaumen #Königin #Beatrix."

Man muss schon eine sehr selektive Wahrnehmung haben, um in diesem Mash-Up so etwas wie ein Manifest zu erkennen. Wer ehrlich ist, der ist beim Lesen mal bewegt, mal angeödet, der findet hellsichtige Kommentare neben brunzdummen Stereotypen; keine Gemeinde, sondern Stämme, Sekten und Einzelkämpfer, die sich aufs tollste anpflaumen. Internet halt.

Das nächste Postulat, das ungeprüft die Runde gemacht hat, ist das der überraschten Männer. "Wie man an den Reaktionen der meisten Männer sieht, ist das nicht in deren Bewusstsein, weil sie nicht davon betroffen sind", erklärte die Miterfindern des "Aufschreis", Nicole von Horst, in einem Interview.

Echt jetzt? Männer wissen nicht, dass ältere Vorgesetzte im Umgang mit jungen Mitarbeiterinnen klebrige Witze reißen? Sie haben keine Ahnung, dass Frauen im Bus, in der Kneipe oder an der Uni dummen Sprüchen ausgesetzt sind? Wer das behauptet, sollte vielleicht mal für einen Abend aufhören über Männer zu twittern und stattdessen mit ihnen sprechen. Ganz zu schweigen davon, dass es eine Frechheit ist, zu behaupten, Männer seien "nicht betroffen". Dahinter steckt dasselbe plumpe Lagerdenken, das die Fernsehauftritte von Alice Schwarzer so schwer erträglich macht (dazu gleich mehr).

Natürlich finden auch Männer andere Männer oft zum Kotzen. Weil sie vulgäres Zeug reden. Weil sie einen Mangel an Manieren und Kinderstube mit Männlichkeit verwechseln. Weil sie Frauen von oben herab behandeln, weil sie grapschen und sabbern und alles in allem eine ästhetische Zumutung sind. Kurzum: Nur weil einer auch einen Penis hat, heißt das noch lange nicht, dass ich auf seiner Seite bin.

Verengter Blick auf "Sexismus"

Das Problem vieler, vor allem älterer Feministinnen ist, dass sie sich weigern, ihr in jüngeren Jahren geformtes Bild von Männern in Frage zu stellen: das des dauergeilen Patriarchen, der männerbündelnd seine Privilegien verteidigt. Wenn es um Sexismus geht, gibt es für sie nur eine Definition, und die steht, zum Beispiel, im "Frauenhandlexikon" von 1983: "Sexismus bezeichnet sowohl die allgemeine Vorurteilshaltung: Menschen vor allem durch die Brille von Geschlechtsstereotypen zu sehen; wie auch den konkreten Inhalt des Vorurteils: sich aufgrund des eigenen männlichen Geschlechts für besser, klüger oder wichtiger als Frauen zu halten."

Und was ist mit sexistischen Frauen? Heterophoben Schwulen und Lesben? Geschlechtsneutralen Misanthropen? Gibt's nicht. Nicht hier. Hier gibt es nur den Kampf zweier sich antagonistisch gegenüberstehenden Lager. "Jede Frau, die in einer verantwortlichen Position ist, da ist ein Mann weniger", erklärte die inzwischen 70-jährige Alice Schwarzer am Sonntag im Ersten. Im Kern gehe es auch heute noch um "Verteilerkämpfe", und der "herabwürdigende sexistische Umgang" der Männer sei letztlich nur ein Instrument. Ein "Kampfinstrument".

Arme Alice. Ein Mensch, egal ob Frau oder Mann, der so denkt, wird nie Frieden stiften. Oder finden.

Wenn es heute noch eine Grenze gibt, die verhindert, dass Frauen und Männer zueinander und zu einem offenen, vorurteilsfreien Gespräch finden, dann liegt sie weniger zwischen den Geschlechtern als vielmehr zwischen den Generationen. Ein Beispiel dafür ist auch Michael Kimmel. Der 61-jährige amerikanische Soziologe ist einer der bekanntesten Männerforscher und zugleich bekennender Feminist. In einem Interview mit dem Fr eitag erklärte er im vergangenen Herbst, weshalb Gleichberechtigung Männern Spaß machen kann ("Sie haben auch mehr Sex"). Als es um die Frage ging, welche Privilegien Männer besitzen, sagte er: "dass man (. . .) nicht dauernd über das Geschlecht nachdenken muss". An der Stelle fragte man sich, ob der Mensch in den vergangenen zehn Jahren mal Zeitung gelesen oder auch nur ein Kino besucht hat.

Wenn heute ein Buch über Männer erscheint, dann ist nirgends mehr von Macht und Privilegien die Rede. Im Gegenteil, das angeblich so dominante Geschlecht gilt als sozialer Problemfall, als Abfallprodukt der Evolution. Das fängt mit den "Jungen in der Krise" an und hört mit den "Kerlen in der Krise" nicht auf. Ein gerade ins Deutsche übersetztes Buch der amerikanischen Journalistin Hanna Rosin heißt schlicht: "Das Ende der Männer", und das ist wörtlich gemeint, von den Erfolgen im Berufsleben bis zur Partnerwahl. "The Weak Sex" heißt eine Ausstellung, die im Herbst im Kunstmuseum Bern eröffnet werden soll. Untertitel: "New Images of Men in Art". Und im Leitmedium Film gibt es "den Mann", wenn, dann nur noch als ironisch oder sehr ernsthaft gebrochene Größe, von den videospielenden Kind-Kerlen in Filmen wie "Jungfrau (40), männlich, sucht. . ." bis zu dem emotional zerfransten Pornojunkie in "Shame".

Nun könnte man einwenden, dass Stereotypen in Buch- und Filmform niemandem wehtun, also so richtig. So wie Männer Frauen mitunter wehtun. Das stimmt auch, und nur Männer, die nie mit Frauen sprechen und nur mit geschlossenen Augen U-Bahn fahren, würden anzweifeln, dass sexuelle Gewalt vor allem ein Männerproblem ist.

Trotzdem ist auch in diesem Punkt die ganze Wahrheit eine etwas andere als unsere durch Geschlechterklischees und Lagerdenken verzerrte Debatte glauben macht. Ian McNicholl, zum Beispiel, das eingangs erwähnte und von seiner Freundin hundertfach verletzte männliche Opfer, ist keineswegs ein freak accident, sondern einer von Tausenden Fällen. In seiner Heimat Großbritannien, wo McNicholl als einer der ersten Männer überhaupt den Mut besaß, seinen Leidensweg auch vor Kameras zu schildern, sind einer Erhebung des Innenministeriums zufolge rund 40 Prozent der Opfer solcher Übergriffe heute Männer. In Berlin war laut Kriminalitätsstatistik 2011 jeder vierte Tatverdächtige im Falle häuslicher Gewalt weiblich, Tendenz steigend. Beobachtungen aus den USA gehen in eine ähnliche Richtung. Einer Studie der Universität von Florida zufolge neigen Frauen sogar häufiger dazu, ihre Partner zu "stalken, anzugreifen und psychisch zu verletzen". Richard Gelles, der an der University of Pennsylvania den Lehrstuhl für "Child Welfare and Family Violence" innehat, sagt: "Entgegen der Behauptung, dass Frauen nur zur Selbstverteidigung zuschlagen, haben wir herausgefunden, dass sie genauso häufig dazu neigen, die Gewalt zu initiieren wie Männer."

Der Unterschied ist der, dass die einen - zu Recht - aufschreien und die anderen nicht. Letztere, weil sie Männer sind. Weil Männer keine Opfer sind. Und weil wohl kein Mann auf die Idee käme, Frauen vorzuwerfen, dass ihr Geschlecht oder ein bis heute anhaltender Verteilungskampf mit dem anderen Geschlecht der Grund für mieses Verhalten sein könnte. Allenfalls ein Mangel an Manieren. Mit einem N.

© SZ vom 30.01.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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