Seillaufen auf die Zugspitze:300 Meter Luft unter den Sohlen

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Der Hochseilartist Freddy Nock läuft am Samstag auf dem Seil der Gletscherbahn zur Zugspitze. Natürlich ohne Netz. Ein schwindelerregendes Porträt.

Thomas Becker

Mit 18 wurde Freddy Nock erwachsen: Er stürzte vom Seil. Aus vier Meter Höhe, auf Beton. Beide Hände waren gebrochen. Im Krankenhaus wusste er: Entweder machst du weiter oder es ist vorbei. Die Seilkarriere des Schweizers war zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alt.

Übung hoch oben: Freddy Nock auf der Sicherung am Zugspitzgipfel. (Foto: Foto: ddp)

Mittlerweile geht Nock in sein 41. Jahr auf dem Seil. Er entschied sich damals für das Weitermachen, ohne Netz und doppelten Boden. Für den Wahnsinn. Er sagt: "Irgendwas erhält mich am Leben." Am kommenden Samstag wird Freddy Nock mal wieder etwas probieren, was noch kein Mensch vor ihm versucht hat: Zur Gipfelstation der Zugspitze laufen - auf dem fünf Zentimeter breiten Drahtseil der Gletscherbahn, knapp einen Kilometer weit, auf einer Höhe von mehr als 2500 Meter.

Es wäre mal wieder ein Weltrekord. An der steilsten Stelle führt der Weg über 56 Prozent Steigung. "Ungefähr 300 Meter über Grund" wird Nock ohne jegliche Sicherung laufen - "aber das ist eigentlich egal. Ich will ja nur hochlaufen." 348 Höhenmeter sind es von der Station Sonnalpin auf dem Zugspitzplatt bis zur Bergstation auf 2943 Meter Höhe.

Geübt hat Freddy Nock hoch über Garmisch nur zwei Mal - das muss reichen. Bis zum Weltrekordversuch hat er noch ein anderes Engagement: im Europapark Rust, in der sogenannten Motorradkugel, acht Vorstellungen pro Tag. Und morgens wird auch noch gejoggt. Artistenalltag.

Balance über dem Löwenkäfig

Nock kennt es nicht anders. Seit 1770 läuft die Zirkus-Familie auf dem Seil. Alfred war vier, als er die ersten Gehversuche ohne festen Untergrund unternahm. Mit elf wagte er sich aufs Hochseil, meist in Familienbegleitung. Furore machte ein Hochseilmarsch über einen Löwenkäfig.

Schon als Junior wurde er mehrfach ausgezeichnet. Weltberühmt machten ihn seine Zirkus-Shows mit Kopfstand und Bockspringen auf dem Seil - und seine Solo-Touren. 1998 stand er erstmals im Guinness-Buch der Rekorde, als er in St. Moritz 734 Meter weit auf dem bis zu 60 Grad steilen Seil der Signalbahn marschierte. Im Jahr darauf war es die Tegelbergbahn in Schwangau und vor drei Jahren die Schwebebahn am Säntis.

Nock hat noch einen anderen Eintrag im Guinness-Buch: mit dem 24-Stunden-Spendenmarathon mit Joey Kelly im sogenannten Todesrad. An der Zugspitze sammelt Nock Spenden für die Äthiopienhilfe "Menschen für Menschen" der Karlheinz-Böhm-Stiftung. Nock hilft aber nicht nur finanziell: Im Mai fand in Südkorea die Weltmeisterschaft der Hochseilakrobaten statt, mit 20 Athleten aus zwölf Ländern. Es gewann: Freddy Nock.

Zehn Minuten und 17 Sekunden brauchte er für die ein Kilometer lange Strecke über dem Han, dem Fluss Seouls. Doch das war nicht die Sensation: Ein Seilläufer aus Usbekistan verlor seine Balancierstange, stürzte, konnte sich halten und saß hilflos auf dem Seil.

Freddy Nock ergriff die Initiative und marschierte los. Bis zum Usbeken, setzte sich neben ihn, besprach die Lage - und lief dann quasi als Stütze für ihn vorneweg, Richtung Sicherheit. Das Unglaubliche wiederholte sich am Tag darauf bei einem Chinesen - Freddy Nock gab erneut den Retter in höchster Not.

Unfälle passieren in diesem Metier. Aber beim Marsch auf die Zugspitze soll ihn nichts bremsen. "Es gibt Leute, die an mich glauben", sagt er. Dazu gehören seine Frau und die vier Töchter. Die mit 19 Jahren Älteste bestreitet mit ihm im Europapark Rust die spektakuläre Motorrad-Show. "Die drei anderen trainieren ab und zu mit mir."

Sollte sich eine der Nocks entschließen, die zweieinhalb Jahrhunderte alte Tradition auf dem Hochseil fortzusetzen: Papa Freddy hätte nichts dagegen.

© SZ vom 24.08.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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