Sack Reis:Die Splitter von Peking

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Plötzlich kommen die Maurer. So wie in Hunderten anderer Straßen der Altstadt von Peking beginnen sie am frühen Morgen alle Geschäfte, alle Kioske, Werkstätten zuzubauen. Bis alle in Höhlen sitzen. Und man denkt: Sieh an, es passiert also auch auf der eigenen Straße.

Von Kai Strittmatter

Zuerst fand ich sie nicht. Waren sie schon abgehauen? Dong und seine Frau. Unsere Friseure. Er mit dem schicken Tattoo auf dem Unterarm, sie oft mit dem Töchterlein unterwegs, dem sie zuletzt einen Afro verpasst hatte. Oft saßen sie in der Gruppe der Nachbarn, die auf der anderen Seite Mah-Jongg spielen, die Männer oben nackt, jetzt im Gassensommer. "Au ja, zum Friseur!", riefen unsere Kinder jedes Mal, wenn wir streng auf ihren Schopf deuteten. Nicht, dass sie das Haareschneiden liebten. Aber bei Dong konnten sie "Tom und Jerry" schauen, so viel sie wollten. Er stellte ihnen seinen Laptop vor den Friseurstuhl, und sie wollten gar nicht mehr runter.

Ein kleiner Salon nur, keine zehn Quadratmeter groß. Jetzt war der Eingang verhangen mit einer schmutzigen Plastikplane. Ein Haufen Ziegel lag davor. In der ganzen Gasse lagen sie, die Ziegel. Es hatte tatsächlich nun uns erwischt, an diesem Freitag. Seit sieben Uhr morgens mauerten sie unseren Hutong ein. Das heißt: Sie mauerten gerade jeden Kiosk, jeden Laden, jede Garküche, jedes Restaurant, jeden Copyshop, jedes Schneideratelier und jeden Friseursalon in unserer Gasse zu. So wie sie das auch schon in der Nachbargasse getan hatten und in hundert anderen Gassen. "Wir erhöhen die Lebensqualität der Bürger", stand auf einem Banner. "Wir stellen das alte Antlitz Pekings wieder her", stand auf einem anderen.

Sie waren schnell, die Maurer. Als ich mittags auf die Straße trat, waren schon verschwunden: mein Gemüseladen, mein Kiosk, mein Jiaozi-Koch, der Computerladen und das Hot-Pot-Restaurant vor unserem Haus. Etwa dreißig Maurer waren bei der Arbeit, fast ebenso viele Polizisten und Sicherheitsleute standen dabei. Der ganze Hutong war auf den Beinen. Eine Mischung aus Zorn und Resignation hing in der Luft. Manchmal brach sich die Wut Bahn. "Immer auf die kleinen Leute!", rief dann einer. "Mafia!", eine andere. "Jawohl", murmelte der Chor, im Angesicht der vielen Uniformen eher verdruckst. Ein Älterer verteidigte die Regierung: "Ihr versteht das nicht. Unsere Stadt soll schöner werden." Er nahm mich beiseite: "Die ganzen Auswärtigen hier, die all die Läden und Restaurants leiten - wir brauchten sie, als wir in Peking Straßen bauten und all die Hochhäuser. Jetzt ist Peking fertig. Wir brauchen sie nicht mehr. Sie sollen nach Hause gehen." Der Bürgermeister hatte zuvor gesagt, es müsse den "urbanen Krankheiten" an den Kragen gehen.

Irgendwann spähte ich hinter die Plastikplane. Tatsächlich, da saßen sie. Oder nein, beide lagen ausgestreckt auf ihren Friseurstühlen. Sie starrte an die Decke, er auf sein Handy. "Komm rein!" Er winkte mich her. "Schau, den Clip habe ich selbst gedreht heute morgen. Zufällig war ich hier, weil ich meine Tochter früh zur Schule brachte. Wir wussten ja nicht, dass sie heute kommen würden. Keiner hatte uns Bescheid gegeben." Man sieht die Maurer, wie sie mit einem Vorschlaghammer die Glastüre zu seinem Salon zertrümmern. "Als zerschmetterten sie mein Herz", sagt er. Dong ist Mitte dreißig, er kommt aus Henan, seit fast 15 Jahren lebt er in Peking. Er hat hier zwei Kinder zur Welt gebracht. Er findet nicht, dass er, seine Frau und sein Salon Teil einer urbanen Krankheit sind. "Diene ich nicht auch dem Volk?", sagt er. Und dann: "Müde bin ich." Er lacht kurz auf. "Das ist das Ende. Das Ende. Oder?" Er drückt auf Play. Man hört das Klirren. Abertausende kleine Splitter.

© SZ vom 19.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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