Gesellschaft:Dunkelfeld-Studie zu „wahren Meinungen“ über Antisemitismus

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Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen und Herbert Reul (r, CDU), Innenminister von Nordrhein-Westfalen, sowie Professor Heiko Beyer (l) von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Professor Lars Rensmann (2.v.l.). (Foto: Rolf Vennenbernd/dpa)

Kaum jemand würde offen zugeben, antisemitische Vorurteile zu hegen. Befragungen fördern jedoch immer wieder Ressentiments in breiten Teilen der Gesellschaft zutage. In NRW soll diese diffuse Gemengelage zwischen Voreingenommenheit und heimlichem Groll beleuchtet werden.

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Düsseldorf (dpa/lnw) - Eine sogenannte Dunkelfeld-Studie soll die Verbreitung antisemitischer Vorurteile und Einstellungen in der nordrhein-westfälischen Gesellschaft erhellen. Dazu haben Spitzenvertreter aus Politik und Wissenschaft am Dienstag in der Düsseldorfer Staatskanzlei eine Kooperationsvereinbarung unterzeichnet.

Bislang gebe es sehr wenige systematische, repräsentative Studien zu dem Thema, sagte Politik-Professor Lars Rensmann von der Universität Passau. Das nun geplante Projekt sei einzigartig in Deutschland, da mit experimentellen Methoden unter anderem versucht werden solle, auch „modernisierte Formen des Antisemitismus zu erfassen“.

Dazu zählten neben Holocaust-Relativierungen auch Judenfeindlichkeit wie sie sich heute etwa in Corona-Protesten teilweise manifestiere, sowie „israelbezogener Antisemitismus“. Die neue repräsentative Studie werde über Nordrhein-Westfalen hinaus Bedeutung haben, sagte der Wissenschaftler.

Ziel sei es, mit neuen, in größere Situationsbeschreibungen eingebetteten Fragetechniken „die wahre Meinung der Befragten herauszukitzeln“, erläuterte Soziologie-Professor Heiko Beyer von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Klassische Befragungen zeigten, dass vor allem höher Gebildete ihre Antworten bei Tabu-Themen an soziale Normen anpassten. Dadurch seien die Ergebnisse höchstwahrscheinlich stark verzerrt.

Weitere Partner der Kooperationsvereinbarung sind NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) und die Antisemitismusbeauftragte des Landes, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Eine gute Datenbasis sei wichtig, um zu verstehen, warum antisemitische Stereotype in welchen Milieus entstünden und wie sie gezielter bekämpft werden könnten, erklärte die Beauftragte.

Reul bilanzierte, allein im ersten Halbjahr seien in NRW 146 antisemitisch motivierte Delikte registriert worden. „Das ist etwa eine Straftat pro Tag.“ Von 2020 auf 2021 war die Zahl der bekannt gewordenen antisemitischen Straftaten um 54 Prozent auf 437 Fälle gestiegen. Erhebungen zufolge werden allerdings nur etwa 20 Prozent solcher Vorfälle angezeigt.

„Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus gibt es in unserer Gesellschaft, aber sie dürfen keinen Platz haben“, betonte Reul. Solche Bestrebungen seien die vielleicht größte Gefahr für die freiheitliche-demokratische Grundordnung.

„Auf deutschem Boden werden antisemitische Parolen skandiert, jüdische Menschen aufgrund ihres Glaubens angefeindet und sogar körperlich angegriffen. Das ist einfach nicht akzeptabel. Das geht nicht“, sagte der Minister. Mit der Kooperationspartnerschaft wolle er auch zeigen: „Wir kümmern uns. Wir gucken nicht weg.“ Auch die Forschungsstelle des Landeskriminalamts werde sich beteiligen und Daten zur Verfügung stellen.

In die seit April arbeitende Meldestelle gegen Antisemitismus kämen täglich Betroffene, um sich Rat zu holen, sagte Leutheusser-Schnarrenberger. Auf dem Schulhof, am Arbeitsplatz oder in den sozialen Medien gebe es immer noch Anfeindungen und übelste Beleidigungen wie: „Warum bist du nicht mit vergast worden?“, berichtete die Beauftragte. Die auf etwa eine Viertel Million Euro kalkulierten Kosten der zweijährigen Forschungsarbeit sollen aus ihrem Etat finanziert werden.

Die Landtagsfraktionschefin der Grünen, Verena Schäffer, verwies auf die im schwarz-grünen Koalitionsvertrag verankerte Absicht, Dunkelfeldstudien zu verschiedenen menschenverachtenden Einstellungen durchzuführen. Dies sei nun ein erster entscheidender Schritt.

© dpa-infocom, dpa:221010-99-78308/4

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