Sie sind begeistert, die Messdiener: Sogar der Papst hat sich das Halstuch umgelegt, das Erkennungszeichen der 50.000 Teilnehmer der Ministrantenwallfahrt nach Rom. Noch bis zu diesem Wochenende machen sie die Straßen Roms bunt; sie haben sogar die Piazza Navona in ein Seifenblasenmeer verwandelt. Sie haben Spaß, ungeachtet der Kirchenkrise daheim. Dort werden sie, wie der Rottenburg-Stuttgarter Bischof Gebhard Fürst sagt, von ihren Altersgenossen oft belächelt: "Sie erleben sich im Alltag als Einzelkämpfer", so der Bischof.
Es stimmt: Wer in der säkularen Welt sagt, er sei Ministrant gewesen, der gilt schnell als ein bisschen verschroben.
Ministrant: Das sagt man über einen, der als harmlos gilt; Oberministrant, wenn sich einer mit geliehener Macht aufplustert. Dabei ist der Ministrantendienst eine Schule fürs Leben - sonst wären wohl kaum so viele Politiker, Künstler, Kabarettisten, Spitzensportler einst Ministranten gewesen. "Immer wieder melden sich Prominente bei uns und sagen, dass ihnen als Ministranten das erste Mal im Leben zugetraut wurde, öffentlich aufzutreten, dass sie Wertschätzung und Anerkennung erfuhren", sagt Peter Hahnen, Referent für die Ministrantenpastoral in Deutschland.
Das Rauchfass und die Politik. Bei Christdemokraten wie Helmut Kohl oder Norbert Blüm scheint der Zusammenhang klar zu sein. Sie haben den Lebensrhythmus der katholischen Kirche mit der Muttermilch aufgesogen, kamen über das Jugendzeltlager zur Jungen Union und schließlich zur Union. Dass dies heute nicht mehr so ist, ist für selbige durchaus ein Problem. Dass aber auch Andrea Nahles, die SPD-Linke, Ministrantin war, überrascht schon eher. Sie gehörte zu den ersten Mädchen, die von Mitte der siebziger Jahre an in Deutschland am Altar dienten; sie hat es durchgesetzt gegen die Alten in der Gemeinde. Für sie war das die politische Urerfahrung, sagt sie.
Franz Müntefering war am Altar dabei, und der einstige Bundesaußenminister Joschka Fischer von den Grünen erzählt, dass er - es war ein bisschen vor der Straßenkämpferzeit - als kleiner Joschka immer die Glocken zu läuten hatte und dies einmal versehentlich um sechs statt um sieben Uhr tat. Fischers Mutter war eine tief fromme Frau. "Bei uns regierte der Papst", erinnert er sich. Auf einem EU-Gipfel wollten die gastgebenden Franzosen jedes Mitglied nach ihren Sorgen befragen - Beichtstuhl-Verfahren nannten sie das; einer der Kollegen wollte wissen, was damit gemeint sei. "Sie müssen Protestant sein", soll Fischer geantwortet haben.
Für andere Kinder ist vielleicht die Wahl zum Klassensprecher der erste Schritt in die Öffentlichkeit, aber nirgendwo in Deutschland haben so viele Kinder und Jugendliche Repräsentationsaufgaben wie im katholischen Gottesdienst. Fast 440.000 Ministrantinnen und Ministranten gab es 2009 in Deutschland, ein Plus von mehr als 40.000 verglichen mit 2008; deutlich mehr als die Hälfte sind inzwischen Mädchen.
Kinder und Jugendliche können, untheologisch gesagt, nirgendwo sonst so früh vor 200 oder 300 Menschen auftreten, Teil sein der heiligen Inszenierung. Ministrieren bedeutet, Lebenserfahrung zu sammeln - bei Hochzeiten wie auf Beerdigungen. Der Dienst gibt Selbstbewusstsein und diszipliniert: Ministranten müssen zehn Minuten vor dem Gottesdienst da sein und dürfen die Frühmesse nicht verpassen. Und ministrieren macht gesellig, in der Sakristei wie auf der Freizeit. Kein Wunder also, dass ein kabarettbegabter Fußballer wie Thomas Müller, der Bayern-Stürmer und WM-Torschützenkönig, Ministrant in Pähl im Pfaffenwinkel war. Heiko Westermann vom Hamburger Sportverein hat ministriert, ebenso der Nationalstürmer Miroslav Klose - die Sakristei als Übungsfeld für Teamfähigkeit und Selbstbeherrschung.
Entsprechend zahlreich sind die Ex-Ministranten unter den deutschen Unterhaltungskünstlern. Bei Alfred Biolek mag man sich kaum anderes vorstellen, bei Thomas Gottschalk ist die katholische Vergangenheit mittlerweile derart bekannt, dass er als ewiger Messdiener durchgeht, der auch mit 60 noch so viel Weihrauch auf die glühende Kohle legt, dass der Gemeinde die Augen tränen. Günther Jauch, Gottschalks Mundwerksbruder, stand in seiner Jugend ebenfalls brav an den Stufen des Altars.
Weniger bekannt ist, dass Jürgen von der Lippe ein andächtiger Ministrant war - und Friedrich Ani, der Münchner Krimi-Autor, hat wohl die meisten echten Särge seines Lebens als Ministrant bei Beerdigungen gesehen. Stefan Raab gesteht: "Ich hab das Glöckchen nicht nur gebimmelt, wenn der Priester Kelch oder Hostie hebt." Sein alter Pfarrer erinnert sich noch heute an sein komisches Talent; Raabs anarchische Kalauerei ist bis heute urkatholisch geblieben, fern aller evangelischen Wortkunst. Harald Schmidt war, allen Gerüchten zum Trotz, übrigens nie Ministrant, sondern Organist.
Aber auch er sagt, die katholische Messe sei "eine fundamentale erste Erfahrung der Theatralik" für ihn gewesen. Wer seine Auftritte einmal spaßeshalber unter diesem Gesichtspunkt ansieht, wird sich wundern, wie viele liturgische Elemente sich hier finden. Nur die Gemeindebeteiligung fällt bei Harald Schmidt geringer aus als in der Kirche; sie beschränkt sich aufs Lachen und Klatschen, aufs Amen sozusagen.
Wahrscheinlich hilft gegen die starren Dogmen und Lehrgebäude der katholischen Kirche am besten ein subversiver Humor, vielleicht hat deshalb das barocke Passau so viele Kabarettisten hervorgebracht. Bruno Jonas zum Beispiel, der seine ersten Bühnenerfahrungen in Sankt Nikolai sammelte und 50 Pfennige pro Altardienst bekam; allerdings musste das Geld dann beim Ministrantenausflug ausgegeben werden. Früher hätte er öfters Ministrantenwitze gemacht, sagt er, heute fände er das fade: Jeder Idiot könne Witze über die Kirche machen.
Es gibt auch weniger schöne Ministranten-Erinnerungen: den kleinen und großen Sakristeityrannen ausgeliefert zu sein, bis hin zu geistigen und körperlichen Übergriffen. Aber es ist doch überraschend, wie viele ehemalige Ministranten positiv über ihre Zeit am Altar reden, vom Büchner-Preisträger Arnold Stadler, der in den - damals noch auf Latein gebeteten - Psalmversen die geheimnisvolle Schönheit der Sprache entdeckte, bis hin zum Liedchen-Sänger Xavier Naidoo, der diese Vergangenheit wiederum mit Gerhard Polt, Madonna und Christoph Schlingensief teilt. So verschieden sind sie, die Ex-Ministranten. Sie sind brave Katholiken geblieben oder Kirchengegner geworden, haben anständige Berufe ergriffen oder sind, dank ihrer theatralischen Urerfahrung, Politiker, Showmaster, Kabarettist, Literat geworden. Die Ministranten in Rom aber dürfen sich auf die Rückkehr freuen: Auch in Deutschland sind sie nicht allein.