Porträt:Staunen lernen

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Weide tritt am liebsten auf kleinen Bühnen auf. (Foto: Axel Schweer-Baumeister)

Er wollte immer ein normaler Zauberer sein, ohne große Show und Glitzerzeug: Nun ist Marc Weide Weltmeister der Salonmagie.

Von Thomas Hahn

Marc Weide aus Gevelsberg bei Hagen war elf Jahre alt, als die Magie ihn erfasste. Es geschah an einem November-Abend in der Oberhausen-Arena. Seine Mutter war dabei, aber weil sie mit beiden Beinen fest in ihrer Erwachsenenwelt stand, konnte sie nicht gleich sehen, dass an diesem Abend etwas mit ihrem Sohn geschah. Auf der Bühne brillierte David Copperfield, der berühmte Zauberer aus Amerika. Er zauberte im großen Stil, ließ Assistentinnen schweben und Zuschauer verschwinden. Das Publikum staunte. Irgendwann bat Copperfield den kleinen Marc auf die Bühne. Marc sollte mit einem dicken Filzstift seinen Namen auf Copperfields Arm schreiben. Kurz darauf verschwand Copperfield und tauchte auf einem Videoschirm auf, der eine Übertragung aus Hawaii zeigte. Copperfield hielt seinen Arm in die Kamera. Marcs Name stand darauf, genauso wie er ihn hingeschrieben hatte.

Marc Weide konnte das nicht begreifen, aber er spürte, dass er eines Tages die geheimnisvollen Kräfte eines Copperfield besitzen wollte. Auf dem Rückweg sagte er zu seiner Mutter: "Ich werde Zauberer."

Kinder, die sagen, sie wollen Zauberer werden, nimmt keiner ernst

In der aufgeklärten Welt gibt es grob gesagt zwei Sorten von Zauberern. Jene aus den Märchenbüchern und jene aus der Unterhaltungskunst. Fast jedes Kind wächst mit den Zauberern aus den Märchenbüchern auf, mit Petrosilius Zwackelmann, Harry Potter, dem Zauberer von Oz oder anderen Figuren, die in mehr oder weniger fantastischen Welten mehr oder weniger fantastische Dinge vollbringen. Die Zauberer aus den Märchenbüchern haben das Image der gesamten Branche geprägt, auch das der Unterhaltungszauberer. Deshalb werden junge Leute in bürgerlichen Kreisen oft nicht ernst genommen, wenn sie angeben, Zauberer werden zu wollen. Auch Weides Mutter glaubte ihm kein Wort.

Marc Weide ist mittlerweile 27. Seit der Copperfield-Erfahrung hat er seinen Berufswunsch derart konsequent verfolgt, dass er heute einer der bekanntesten deutschen Zauberer ist: feste Größe im Vormittagsfernsehen, gefragt auf deutschen Bühnen, seit diesem Sommer sogar Weltmeister in der Sparte Salonzauberei. Immer wieder musste er auf seinem Weg vernünftige Einwände aussitzen. Seine Mutter leistete zwar eine gewisse Anschubfinanzierung, als sie ihm zum zwölften Geburtstag einen Zauberkasten schenkte. Aber sie war doch etwas besorgt, als ihr Sohn kurz vor dem Abitur immer noch davon sprach, Zauberer werden zu wollen. Die Berufsberaterin meinte es auch nur gut, als sie ihm einige bodenständige Alternativen nahelegte.

Marc Weide lächelte und zauberte weiter. Mit seiner Mutter einigte er sich auf eine Abmachung: Nach dem Gymnasium würde er ein Jahr lang als Zauberer jede Möglichkeit zum Auftritt nutzen, um herauszufinden, ob er von seiner Kunst leben könnte. Er bestand die Prüfung. Heute will Marc Weide ein Beispiel dafür geben, dass es manchmal klug ist, dem Kindheitstraum zu folgen. Und er will das Image seines Metiers korrigieren: Zauberei ist bei ihm kein Märchen, sondern ein relevantes Kunsthandwerk in einer Gesellschaft, die allmählich das Staunen verlernt.

Marc Weide ist pünktlich. Plötzlich steht er da in einem kleinen Café in seiner neuen Wahlheimat Hamburg-Hamm, grüßt freundlich und nimmt Platz. Die Zauberer aus den Märchenbüchern wirken oft etwas gestresst und ernst, weil sie ständig gegen irgendwelche bösen Mächte anzaubern müssen. Marc Weide wirkt überhaupt nicht gestresst. Abends zuvor hatte er einen Auftritt im Schmidtchen an der Reeperbahn, in ein paar Stunden hat er den nächsten. Er freut sich darauf. Er ist insgesamt froh, dass er sich durchgesetzt hat gegen alle Bedenken der Erwachsenen. Sein aktuelles Programm ist so etwas wie ein Manifest dieser Freude. "Hilfe, ich werde erwachsen!" heißt es. Seine Tricks sind dabei eingebettet in die Geschichte vom Jungen Marc, der auszog, ein Junge zu bleiben. Er erzählt von Copperfield, vom ersten Zauberkasten, von der zweifelnden Berufsberaterin. Am Schluss lässt er einen roten Luftballon steigen und spricht von der Zauberei als Zuflucht vor den Dämonen der strengeren Berufswelt. Im Café sagt Marc Weide: "Das Thema Erwachsenwerden beschäftigt mich."

Die Welt von heute ist voll mit Zauberei. Der moderne Mensch erleuchtet Räume per Knopfdruck. Er spricht im Gehen mit anderen Menschen, die weit weg sind. Er lenkt rasende Fahrzeuge, die keinen erkennbaren Antrieb haben. Er zieht binnen eines Augenblicks jedes erdenkliche Wissen aus kleinen flachen Kästen. Würde jemand aus dem Mittelalter in die heutige Zeit fallen, er würde wahrscheinlich verrückt werden, weil er sich umgeben fühlte von magischen Kräften und Geisterhänden. Wer dagegen in der digitalen Welt groß geworden ist, staunt kaum noch. Der ärgert sich eher darüber, wenn der Zauber des Fortschritts mal aussetzt, wenn das Licht nicht auf Knopfdruck angeht, wenn das Handy keinen Empfang hat, das Auto nicht anspringt oder das Internet hängt.

Bei Marc Weide staunt man wieder. Gerade bei ihm, der auch auf der Bühne gar nicht aussieht wie ein Zauberer, sondern wie ein ganz normaler schmaler Jüngling in Jeans, der gerne lacht. Die berühmtesten Meister stehen für magische Spektakel. David Copperfield hat Flugzeuge verschwinden lassen und einmal sogar die Freiheitsstatue in Luft aufgelöst, um den Amerikanern zu zeigen, wie schnell die Segnungen einer freiheitlichen Demokratie wieder weg sein können. In Deutschland haben vor zwei Jahren die Zauberer-Brüder Andreas und Christian Ehrlich unter dem Markennamen Ehrlich Brothers im Frankfurter Fußballstadion einen Zuschauerrekord aufgestellt.

Sein erstes Programm hieß: "Las Vegas kann mich mal". Da zersägte er eine Gummipuppe

Marc Weide interessiert sich nicht für Zuschauerrekorde und Massen-Hokuspokus. Seine künstlerische Heimat sind die Kleinkunstbühnen. Er bewundert Copperfields Ausstrahlung, aber dessen Tricks sind ihm zu weit weg von den Leuten. "Ich mag diese Glitzerkisten nicht." Sein erstes Programm hieß "Las Vegas kann mich mal" und war eine Parodie auf den großen Bühnenzauber; am Schluss zersägte er eine aufblasbare Gummipuppe. Weide mag die beiläufige Zauberei mit Alltagsgegenständen. Er sammelt Eheringe im Publikum ein und verwandelt sie in eine kleine Kette. Er bittet jemanden, einen Geldschein zu unterschreiben, lässt ihn verschwinden und in einer Zitrone wieder zum Vorschein kommen. Weltmeister wurde er mit einer Kartenzauberei. Eine Zuschauerin durfte eine Karte wählen. Bald erschien ein Bild der Karte auf seinem T-Shirt. Wenn er die echte Karte anzündete, qualmte auch die Karte auf dem T-Shirt. Wenn er eine Ecke der Karte abriss, verlor auch die Karte auf dem T-Shirt eine Ecke.

Seine Rolle ist die des Zauberers von nebenan, der ein Bewusstsein dafür schafft, dass die Wunder in den kleinen Dingen liegen. Er hat nicht vergessen, wie er einst vor Copperfield saß und staunte. "Dieses Gefühl von damals in anderen auszulösen, war immer mein Ziel", sagt er, "aber mein Weg der Magie ist ein komplett anderer."

Die Magie des jungen Weide. Sie scheint näher dran zu sein an der Wirklichkeit des Zauberns in Deutschland als zum Beispiel die der Ehrlich Brothers mit ihrer mächtigen Illusionsmaschinerie. Fast 3000 Zauberer gibt es im Magischen Zirkel, der Vereinigung der Amateur- und Berufszauberer in Deutschland mit ihren rund 80 Ortszirkeln. Die meisten betreiben Zaubern als Hobby und werden eher nicht in die Verlegenheit kommen, Elefanten oder Autos verschwinden zu lassen. Marc Weide steht für ihre Welt der kleinen Handgriffe und für eine Illusion der kurzen Wege, die immer beliebter wird. Michelle Spillner, Sprecherin des Magischen Zirkels, kann keinen einheitlichen Trend in der Zauberei ausmachen. Aber sie sagt: "Im vergangenen Jahrzehnt sind so viele Close-up-Spielorte und Salonmagie-Theater entstanden wie noch nie." Das kleine Format ist in.

Einen Trick erklären? Warum nicht - die Leuten könnten dann seine Kunst besser verstehen

Marc Weide sagt, digitale Zauberei sei in. Er betätigt eine App auf seinem Handy. Auf dem Display erscheint eine Münze. Sachte bewegt er das Handy, und plötzlich liegt die Münze in seiner Hand. Er lächelt, der Betrachter staunt. Wie hat er das gemacht? Die Zauberei ist wie das Auto oder der Computer. Man kann sie erklären. Man kann sie sogar googeln. Das Internet entzaubert die Zauberer. Das Berufsethos, niemals einen Trick zu verraten, ist gebrochen, und Marc Weide findet das im Grunde gar nicht so schlimm. Manchmal wünschte er sich sogar, er könnte selbst einen Trick erklären, damit die Leute seine Kunst besser verstehen, den Aufwand, der dahinter steckt, die Fingerfertigkeit, die sie erst möglich macht. Vier Jahre hat er an der Nummer gearbeitet, mit der er Weltmeister wurde. Auf Zauberkongressen kann er darüber reden und die fachliche Wertschätzung für seine Tricks ernten. Sonst nie. "Man arbeitet vier Jahre für etwas, das die Leute nicht sehen dürfen", erklärt er, "das ist das Ironische."

Andererseits: Die Illusion lebt vom Geheimnis, das sie umgibt. Ein echter Zauberer weiß, dass er nicht wirklich zaubern kann, und verändert trotzdem für ein paar Augenblicke die Wirklichkeit seiner Zuschauer. Marc Weide zaubert regelmäßig in Kinderkrankenhäusern und sieht die Dankbarkeit in den Augen der Patienten. Er ist auch schon mal im Gefängnis aufgetreten, vor 80 schweren Jungs. Er blickte in grimmige Gesichter. Dann zauberte er, und die schweren Jungs lachten. "Man kann die Welt in den Köpfen schöner machen", sagt Marc Weide. Manchmal reicht dazu schon eine Münze, die aus dem Handy fällt, oder ein brennendes Stück Papier, das sich in einen Eiswürfel verwandelt.

Die Magie des jungen Weide funktioniert: Sie lässt die Menschen nicht kalt. Und für manche ist sie sogar ein Zeichen. Nach einem Auftritt kam mal ein 14-Jähriger namens Julian auf Marc Weide zu. Er war offensichtlich bewegt von dem, was er erlebt hatte, und er sagte zum jungen Zauberer Weide: "Du bist mein David Copperfield."

© SZ vom 20.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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