Pflege von Angehörigen:Vater und Sohn

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Ulrich Mechl pflegt seinen 90-jährigen blinden Vater zu Hause. Er verzichtet auf Urlaub, Hobbys und Büroalltag - und hält das für selbstverständlich.

Ulrike Bretz

Von einem Besucher sieht Franz Mechl nicht viel. Er ist fast blind, erkennt nur den groben Umriss des Kopfes. Augen, Nase und Mund verschwimmen zu einem unscharfen Fleck.

Der kräftige, kleine Mann, der vor einem Monat seinen 90. Geburtstag gefeiert hat, tastet sich vorsichtig durch seine Wohnung. Vor zwei Jahren ist er beim Spaziergang auf einer Eisplatte ausgerutscht und hat sich am Lendenwirbel verletzt. Eben diese Dinge, die passieren, wenn einer nicht mehr gut sieht, wenn einer nicht mehr sicher ist beim Laufen.

Dinge, die passieren, wenn ein Mensch alt wird.

Seit er alt ist, ist Franz Mechl auf Hilfe angewiesen. Er ist einer von rund 2,25 Millionen Menschen in Deutschland, die diese Hilfe zu Hause bekommen. In den eigenen vier Wänden, von den eigenen Angehörigen. Das ist nur möglich, weil sein Sohn den Arbeitsalltag radikal verändert hat. Ulrich Mechl ist 51 Jahre alt, Beamter in der Datenverarbeitung bei der Deutschen Bundesbank, ledig.

Er hat seinen Vater vor 13 Jahren, nach dem Tod der Mutter, von der Heimatstadt Lindau zu sich nach Hause geholt: in die Zwei-Zimmer-Wohnung in einem Wohnblock am Stadtrand von München. Schon damals konnte sein Vater nicht gut sehen, die Erblindung kam schleichend. Aber Franz Mechl, der gelernte Konditor und spätere Grenzbeamte, konnte noch anpacken. Er griff seinem Sohn unter die Arme, machte den Haushalt, kochte das Essen. Sie sahen sich zusammen John-Wayne-Filme im Fernsehen an, hörten Elvis-Presley-Platten, und manchmal verreisten sie. Nach London, Rom und Wien, später nach Niederbayern.

Bis eben zu jenem Sturz im Winter vor zwei Jahren. Franz Mechl musste damals für einige Wochen ins Krankenhaus. Als er entlassen wurde und klar war, dass er von nun an jeden Tag auf Schmerztabletten und auf Hilfe angewiesen sein würde, stand da auf einmal diese große Frage im Raum: Wohin mit dem alten Vater?

Ulrich Mechl holte ihn wieder zu sich, in das Zuhause der beiden. Der Sohn nahm drei Wochen Urlaub, hängte vier Wochen unbezahlten Urlaub dran und traf dann eine Entscheidung: "Ich wollte meinem Vater ein Pflegeheim ersparen und ihn zu Hause betreuen", sagt er: "Solange es irgendwie geht."

Wenn Ulrich Mechl darüber spricht, warum ihm diese Entscheidung nicht so schwer gefallen ist, benutzt er Worte wie "Ehrensache" und "Selbstverständlichkeit". Es ist der Versuch, das zu erklären, was wohl die meisten Kinder gegenüber ihren Eltern fühlen - Dankbarkeit, Verantwortung, das Gefühl, etwas zurückgeben zu wollen.

"Meine Eltern haben doch auch so viel für mich gemacht und Opfer gebracht", erklärt Ulrich Mechl.

Nun bringt er selbst Opfer, auch wenn er sagt, dass er es selbst gar nicht so empfindet. Er hat mit seinem Arbeitgeber eine Vereinbarung getroffen: Vier Tage in der Woche arbeitet er von zu Hause aus, an einem kleinen Schreibtisch im Wohnzimmer; einen Tag arbeitet er im Büro. Bei der Bundesbank spricht man bei Situationen wie der der Familie Mechl von "sozialer Indikation". Wer Kinder oder andere Angehörige betreuen will, kann - wenn es die Stelle erlaubt - von zu Hause aus arbeiten.

Ulrich Mechl war über das Angebot froh - und er glaubt, dass es noch viel mehr dieser Angebote geben müsste. Deshalb hält er den Vorstoß der Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU), einen Rechtsanspruch auf eine Familien-Pflegezeit von zwei Jahren einzuführen, für den richtigen Weg.

Trotzdem hatte er Angst. Angst davor, den Kontakt zu den Kollegen zu verlieren. Nicht mehr Teil haben zu können am Büroleben. Angst davor, von den wichtigen Informationskanälen abgeschnitten zu sein. An dem einen Tag in der Woche will er am Arbeitsplatz in der Bundesbank alles aufholen: "Am Montag kommen die Kollegen immer erst mal zu mir und wir reden über alles." Außerdem ist er über seinen Heimarbeitsplatz ständig mit der Firma verbunden.

In der Hauptsache aber ist der Mann rund um die Uhr beim pflegebedürftigen Vater. Er hilft ihm beim Aufstehen, gibt ihm Medikamente. Legt ihm die Kleidung heraus, macht das Frühstück, kocht das Mittagessen. Macht Spaziergänge mit ihm, geht einkaufen, bringt ihn zum Arzt. Sonntags geht er mit ihm in ein indisches Restaurant auf der anderen Straßenseite, "um den Alltag zu durchbrechen". Und das Allerwichtigste: Er schenkt seinem Vater Aufmerksamkeit.

Auch der Vater hatte Angst. Angst, dass er seinem Sohn zur Last fallen würde. Andererseits weiß er, dass er sich als Blinder in einer neuen Umgebung nicht zurechtfinden und in einem Pflegeheim einsam fühlen würde. Er freut sich, dass er seinem Sohn manchmal noch im Haushalt helfen kann, auch wenn es Kleinigkeiten sind. "Ich muss mir jeden Tag ein bisschen den Kopf zerbrechen und mitdenken", sagt Franz Mechl. Im Pflegeheim wäre das anders, glaubt er. "Ein Leben, in dem man nicht mehr denken muss, ist kein Leben mehr."

Die alte Angst kommt trotzdem durch, immer wieder. Dann sagt der 90-Jährige zu seinem fast 40 Jahre jüngeren Sohn: "Ich versau' dir doch dein ganzes Leben." Sein Sohn lässt ihn spüren, dass das nicht stimmt. Er ist noch immer der Meinung, dass die Entscheidung richtig war. Nicht nur für seinen Vater, auch für ihn selbst.

Die Kollegen unterstützen ihn, manche wollen es ihm gleichtun. "Zumindest sagen sie mir das", erläutert Ulrich Mechl: "Was hinter meinem Rücken geredet wird, weiß ich nicht." Seine Karriere hat unter der Entscheidung nicht gelitten - er war als Beamter schon vorher dort angekommen, wo er hinwollte. "Und selbst wenn - es gibt doch so viele Frauen, die für ihre Kinder alles aufgeben. Karriere ist halt doch nicht alles. Die Männer stehlen sich leider viel zu oft davon."

Für seine Hobbys hat er seit zwei Jahren nicht mehr sehr viel Zeit: In den Kirchenchor geht er nicht mehr. Er will seinen Vater nicht einen ganzen Abend lang alleine lassen. Auch Urlaube sind gestrichen. Stattdessen leihen sich Sohn und Vater Filme aus. Dokumentationen über andere Länder, über Indien zum Beispiel. "Wenn wir schon nicht hinfahren können, schauen wir es uns wenigstens im Fernsehen an", sagt Ulrich Mechl.

Und was, wenn eine Frau in sein Leben tritt? In ein Leben, das er in einer Zweizimmerwohnung mit einem pflegebedürftigen Vater teilt? Darauf hat der Sohn mit dem Pflegefall eine eindeutige Antwort: "Das müsste sie eben akzeptieren. Wenn es eine wäre, die ein Problem damit hat, hätte ich ein Problem mit ihr!"

Und hört sich wie bei allem, was er sagt, sehr überzeugt an.

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