Paris-Kolumne "La Boum":Ganz neue Aussichten

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(Foto: Steffen Mackert)

Viele Touristen lernen Frankreichs Städte gerne bei Rundfahrten im Petit Train kennen, einem Mini-Zug auf Gummirädern. Unsere Korrespondentin fand das immer abwegig. Nun sitzt sie selbst drin.

Von Nadia Pantel

Vor drei Jahren habe ich mal einen freundlichen Shuttlebusfahrer kennengelernt, der seine Biografie in laminierten Folien auf dem Beifahrersitz liegen hatte. Der Mann pendelte im Minibus zwischen einem Bahnhof und einem Freizeitpark hin und her. Ich fuhr wegen des rechtsextremen Besitzers in den Park, der dort ein identitäres Disneyland aufgebaut hatte. Die übrigen Leute im Bus wollten sehen, wie Menschen als Gladiatoren verkleidet Löwen durch Reifen springen lassen. Wenn Sie sich für Löwen oder Politik interessieren, sollten Sie das mal anschauen. Puy du Fou heißt der Park.

Der Fahrer machte sich wenig aus Politik, aber umso mehr aus schönen Orten. Er liebte Puy du Fou und Arcachon und Biarritz und Lourdes und Deauville und Cannes, all diese Ecken Frankreichs, in denen das Land aussieht, als habe man es sich für Urlaubsfotos ausgedacht. Ich weiß, wo der Fahrer überall war, weil ich ihn natürlich auf die Mappe auf dem Beifahrersitz angesprochen habe. Es gibt angeblich Menschen, die Journalistin werden, weil sie nah ranwollen an die Mächtigsten und Wichtigsten. Ich wollte einfach nur eine Entschuldigung, um immer alles fragen zu können.

Ich träumte plötzlich davon, ganz Frankreich nur im Petit Train zu bereisen

Es stellte sich heraus, dass der Shuttlebusfahrer eine intensive Vergangenheit im Petit-Train-Business hatte. In der Mappe hatte er alle Strecken dokumentiert, auf denen in Frankreich diese Mini-Züge auf Gummirädern fahren. Der "Petit Train" ist eine Erfindung für gehfaule Touristen, denen wenig peinlich ist und die Städte kennenlernen, indem sie an Sehenswürdigkeiten vorbeifahren. Nach den Seiten mit der Streckenführung kamen Fotos, auf denen mein Shuttlebusfahrer vor unterschiedlicher Kulisse an den Führerhäuschen der Petit Trains lehnte, mal vorm Mittelmeer, mal vor den Pyrenäen. 15 Sommer lang war er Petit-Train-Chauffeur. Es war die beste Zeit, sagte er. Ich wurde sofort rührselig und träumte davon, ganz Frankreich nur im Petit Train zu bereisen. Dann fiel mir auf, dass ich bislang jedes Mal, wenn ein Petit Train an mir vorbeifuhr, gedacht hatte: Was für ein alberner Quatsch.

Drei Sommer später stehe ich in Marseille an der roten Ampel, Fußgänger schauen mich verständnislos an, ich sitze in einem Petit Train. Beziehungsweise "Pe! Tiii! Traiiinnn!", wie mein Sohn sagen würde. Er verehrt diese Züge so sehr, dass er nur schreiend von ihnen erzählen kann. In dieser Woche, bei seiner und meiner ersten Petit-Train-Fahrt, wurden wir zwei Mal von Betrunkenen beschimpft ("Was für ein alberner Quatsch", lallten sie) und eine Gruppe junger Männer zeigte uns an der Uferpromenade ihre nackten Hintern. Mein Sohn schaute zum Glück die ganze Zeit nur nach unten auf die Straße, um zu sehen, wie schnell sich die Räder drehen. Und ich bereute, dass ich so auf den reaktionären Puy-du-Fou-Gründer fokussiert war, dass ich den Mann mit der Petit-Train-Mappe nicht nach seiner Nummer gefragt hatte.

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