Als der Besucher in der Wand verschwand, saß die Familie beim Frühstück. Er war durch den Flur geschlurft, mit starrem Blick vorbei am Tisch, wo Mutter, Vater und Tochter gerade Brötchen schmierten. Dann schritt er aus dem Zimmer, als sei dort eine Tür. Nur dass da eben keine Tür war. Und Frieden war von da an auch nicht mehr.
Der Besucher war keiner der stillen Sorte. Er machte auf sich aufmerksam, wann immer es ging. Er brüllte den Schlafenden ins Ohr. Batteriebetriebenes Spielzeug erwachte zum Leben. Und manchmal sah es aus, als hätte das Töchterchen einen zweiten Schatten bekommen, als stünde eine große, stämmige Gestalt hinter ihr. "Da ist einer bei mich, Mama", sagte sie dann.
Wäre dies der Auszug eines Drehbuchs, es würde wohl nicht verfilmt. Geschichten, vor allem Spukgeschichten, brauchen eine Auflösung - diese hat keine. Kein missgünstiger Vormieter, kein indianisches Gräberfeld unter der Garage, keine Psychosen. Nur diese Familie, die seltsame Dinge erlebte und einen Brief schrieb. Der Brief landete in einem Briefkasten in Freiburg im Breisgau. Dort beherbergt eine Gründerzeitvilla Deutschlands einzige Anlaufstelle für Spukgeplagte. Menschen, die Verblichenen begegnen, die Zukunft träumen oder wissen, dass da etwas im Kleiderschrank hockt und nur darauf wartet, dass das Licht ausgeht - who you gonna call?
Walter von Lucadou stützt sich beim Gehen auf einen Stock, unter seinen Füßen wispert das Herbstlaub. Der graue Bart ist akkurat gestutzt, die Brille sitzt auf der Nasenspitze. Deutschlands bekanntester Spukexperte sieht nicht aus wie ein Ghostbuster. Er sieht aus wie ein Bibliothekar.
Es ist acht Uhr morgens, Oberösterreich liegt noch im Nebel. Lucadou leert heute nicht diesen Briefkasten in Freiburg, er geht auch nicht ans Telefon, er wird über das "Skandalon Spuk" sprechen - auf einer Fachtagung für Parapsychologie. Hinter ihm erhebt sich die verzierte Fassade von Schloss Puchberg, einem Prunkbau aus dem 16. Jahrhundert. Drinnen meterhohe Spiegel, viel Blattgold, von der Stuckdecke grienen entblößte Engel herab. Über die Jahre war das Schloss in der Hand von Waffenhändlern und Gummifabrikanten. Inzwischen finden hier Kongresse, Seminare und Konzerte statt. Es ist nicht bekannt, ob sich auf Schloss Puchberg je etwas Sonderbares zugetragen hat. Das letzte Mal, als die Gegend von einem Spuk heimgesucht wurde, war es Norbert Hofer, der in einem Festzelt dröhnte, dass es diesmal schon klappen werde mit dem Amt des Bundespräsidenten und den sicheren Grenzen. Die FPÖ-Hausband sang: "Das Leben ist crazy, la ola ole".
Um Grenzen soll es heute auch gehen, wie crazy das wird, mal sehen. Im Raum steht die Frage: Wie umgehen mit außergewöhnlichen Erfahrungen, wie sie messbar machen? Im Raum sitzt: die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen. Neben Lucadou ist da Peter Mulacz, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Parapsychologie und Grenzwissenschaften. Die gibt es seit 1927. Peter Mulacz gibt es fast genauso lang. Er sieht ein bisschen aus wie ein Wiedergänger von C. G. Jung. Brauner Tweed-Anzug mit Einstecktuch und Uhrenkette. Er beginnt Sätze mit "wissen Sie" und schließt mit "nicht wahr? Die Enden seines Schnurrbarts weisen den Weg zu den Sternen. Da ist der Psychologe Wim Kramer. Anfang der Neunziger hat er eine Privatpraxis betrieben, behandelte Patienten, die nach Spuk- oder Nahtoderfahrungen an sich und der Welt zweifelten. Damals hatten Parapsychologen noch mehr zu tun. Die Neunziger waren ja nicht nur Loveparade, sondern so etwas wie die Blütezeit des Jugendokkultismus. In Kinderzimmern wurden Gläser gerückt und Lehrer verflucht. Im Ländlichen lief der Friedhof der Bushaltestelle den Rang als beliebtester Treffpunkt ab. Die Bravo machte Auflage mit Foto-Lovestorys wie "Im Bann des Teufels". Hauskatzen hießen Mulder und Scully.
20 Jahre später, im digitalen Zeitalter, erscheint die Welt ziemlich entzaubert, das gilt auch für den Spuk. Nicht Kettenrasseln oder Klopfgeräusche lassen die Menschen heute aus dem Schlaf schrecken, sondern die Windows-Melodie, die aus dem verwaisten Arbeitszimmer herüberweht.
An Geister glaubt auf Schloss Puchberg im Übrigen auch niemand mehr. Die anwesenden Parapsychologen haben Doktortitel in Physik und Psychologie. Sie wollen Schwindler entlarven und das, was übrig bleibt, wissenschaftlich erklären. Sie glauben an Psi. Unter dem 23. Buchstaben des griechischen Alphabets werden all jene Phänomene summiert, die nicht mit physikalischen, biologischen, psychologischen Gesetzmäßigkeiten zu erklären sind. Dazu gehören Dinge wie Psychokinese (das Bewegen von Gegenständen durch Gedankenkraft) oder Präkognition (das Voraussehen zukünftiger Ereignisse). Psi, das ist die Grenze, an der sich die Parawissenschaften von den Naturwissenschaften scheiden. Keine Botschaft aus dem Jenseits, kein Schluckauf Gottes - nur eine Abweichung von der Norm. Eine Anomalie, von der Skeptiker behaupten, dass sie durch Messfehler entstanden ist. Oder Betrug.