Mütter und Mode:Ganz die Tochter

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Vor ein paar Jahren noch galten Mütter, die sich anzogen wie Mädchen, als megapeinlich. Heute ist es völlig okay, wenn sie die gleichen Ballerinas und einen olivgrünen Zara-Parka tragen wie die eigene Tochter.

Miriam Stein

An einem frühen Montagabend Anfang September steht eine gutaussehende Dame in der Berliner Filiale der Modekette Cos und betrachtet sich kritisch im Spiegel. Sie trägt eine asymmetrische, schwarze Jerseyjacke aus der neuen Kollektion und schmal geschnittene Hosen. Christiane Hansen dreht sich ins Profil, bindet sich die langen Enden des Schalkragens um die Hüfte. Neben ihr steht eine Kundin, die die gleiche Strickjacke anprobiert. Beide haben die gleiche schmale Statur, sind etwa einsfünfundsechzig groß, das Kleidungsstück steht beiden gleichermaßen gut. Es gibt da nur einen kleinen, entscheidenden Unterschied: Christiane Hansen wird im nächsten Monat sechzig Jahre alt, die Frau neben ihr ist halb so alt wie sie.

Mit dieser Aufnahme rief Comptoir des Cotonniers Mutter-Tochter-Paare im Jahr 2009 auf, sich für ein Fotoshooting zu bewerben. (Foto: N/A)

Wenig später steht Christiane Hansen hochzufrieden an der Kasse und bezahlt einen Mantel, zwei Röcke, ein Kleid und besagte Strickjacke. "Ich wäre hier nie reingegangen", sagt sie leise, "aber wenn ich mit meiner Tochter unterwegs bin, klappern wir alle möglichen Läden ab." Ihre Tochter ist nicht die Frau, die neben Christiane Hansen vor dem Spiegel stand. Ihre Tochter Julia ist 25 Jahre alt, sie hat blondgelocktes Haar und überragt ihre Mutter um ein paar Zentimeter. "Meine Mutter besucht mich zwei Mal im Jahr und dann gehen wir zusammen los", erzählt Julia, "das ist unser Ritual. Ich gehe mit niemandem lieber einkaufen."

Was ganz offensichtlich ist: Mutter und Tochter tragen beide ein langes Oberteil über einer Röhrenhose, eine geräumige Handtasche und an den Füßen beigefarbene Loafers. "Julia ist meine Stilberaterin geworden", sagt Christiane Hansen, und ihre Stimme hüpft ein wenig vor lauter Stolz, "ja, mit Julias Hilfe ziehe mich viel jünger und zeitgemäßer an."

In den Fußgängerzonen von Hamburg über Düsseldorf bis München wimmelt es nur so vor solchen Hansens. Immer häufiger trifft man an Samstagvormittagen Stil-Zwillinge, die nicht beste Freundinnen sind, nicht Schwestern, sondern wie die Hansens: Mutter und Tochter. Vor ein paar Jahren noch wurden Frauen, die sich nicht ganz altersgemäß anzogen, spöttische Blicke nachgeworfen, heute ist es völlig okay, wenn sie die gleichen Tory-Burch-Ballerinas und einen olivgrünen Zara-Parka tragen wie die eigene Tochter - solange es nicht verkrampft jugendlich wirkt.

Dass sich der Modegeschmack verschiedener Generationen immer mehr annähert, hat auch Dr. Ayalla Ruvio festgestellt, Marktforschungs-Professorin an der Temple University in Philadelphia. Die Wissenschaftlerin hat gerade eine Studie abgeschlossen, die sich mit diesem Phänomen der "Konsum-Doppelgänger" beschäftigt. Über ein Jahr lang hat Dr. Ruvio 343 Mutter- und Tochterpaare hinsichtlich ihres Selbstverständnisses und Modebewusstseins beobachtet - und festgestellt, dass viele Mütter sogar schon Mädchen, die noch mitten im Teenageralter stecken, als ihre Stilvorbilder bezeichnen. Ihre Studie schlägt Wellen: Sie wurde unter anderem im US-Politik- und Kulturmagazin The Atlantic besprochen und wird bald in der renommierten amerikanischen Fachzeitschrift Journal of Consumer Behavior veröffentlicht.

Viele Mütter haben entweder keine Zeit oder einfach nur keine Ahnung, was gerade modisch angesagt ist. Deswegen wenden sie sich an ihre Töchter", erklärt Ayalla Ruvio. Die Mädchen hätten, laut der US-Professorin, so direkten Einfluss auf das modische Konsumverhalten ihrer Mamas. "Die Mütter fühlen sich heute mit 54 viel jünger als noch vor zehn Jahren; sie fürchten sich davor, auszusehen wie ihre eigenen Mütter." In einer Zeit, in der die Modeindustrie Mannequins wie das mittlerweile 60-jährige Ex-Supermodel Lauren Hutton wiederentdeckt, in der Modemagazine Styletipps auch für Frauen mit 55 geben und Stilikonen wie die 54-jährige Karl-Lagerfeld-Muse Ines de la Fressange Style-Ratgeber schreiben (ihr Büchlein "Parisian Chic" kam gerade auf den Markt) trauen sich viele Frauen jenseits der 50 mehr zu als Bundfaltenhosen, Twinsets und atmungsaktive Schuhe.

Hinzu kommt: Frauen hierzulande achten mehr auf ihre Gesundheit, je älter sie werden - das hat auch die Deutsche Krankenversicherung vor gut einem Jahr in ihrem Report "Wie gesund lebt Deutschland?" herausgestellt. Stimmt, sagt Christiane Hansen, auch sie ernähre sich gesünder als früher, treibe regelmäßig Sport, trinke weniger Alkohol und Kaffee. Durch ihren gesünderen Lebenswandel sei sie fitter, schmaler und fühle sich viel jünger als vor fünf, sechs Jahren. "Ich kann wirklich gar nicht glauben, dass ich bald sechzig werde", sagt sie und schüttelt den Kopf, "nicht, weil ich das Alter fürchte, sondern weil ich mich wirklich nicht so fühle, ganz im Ernst."

Was schätzt Christiane Hansen besonders an den Empfehlungen ihrer Tochter? Die Teile, die sie entdecke, seien "raffinierter geschnitten" als die Sachen, die sie selber für sich kaufen würde. Julia Hansen beschäftigt sich intensiver mit Mode als ihre Mutter. Sie liest Modeblogs, Magazine und lässt sich davon "inspirieren, was die Berliner täglich auf der Straße spazieren führen". Diese Einflüsse gibt sie an ihre Mutter weiter, die, im Gegenzug, das ein oder andere Teil für ihre Tochter bezahlt. "Julia ist die beste Beraterin, weil sie mich kennt. Sie weiß, was zu mir und in mein Leben passt."

Früher undenkbar, heute total normal: Mutter Isolde Tarrach und Tochter Tracy gemeinsam in einer Münchner Diskothek. (Foto: picture-alliance/ dpa)

Die Marke Cos hätte sie ohne ihre Tochter wahrscheinlich nicht kennengelernt. Die schwedische Kette mit der minimalistischen Mode ist nicht nur ein Favorit von Moderedakteurinnen, sondern auch von Frauen, die sich jünger fühlen, als sie sind: Die Teile sind modern, aber nicht trendig, und neben schwarzen Stretchminis hängen eben auch Mäntel, Hosen und Ballonröcke, die so zeitlos sind, dass man sie mit 28, aber auch mit 63 Jahren anziehen kann.

Labels wie Cos sollten überhaupt noch mehr Interesse an Frauen wie Christiane Hansen haben. Dieter K. Müller, Forschungsleiter der ARD Werbung, beschäftigt sich seit Jahren mit Zielgruppenforschung. Er sagt: "Die 50- bis 59-Jährigen haben die größte Kaufkraft pro Person; in vielen Marktsegmenten sind Konsumenten über 49 Jahren die größten Umsatzbringer." Das Lebensalter korreliere "immer weniger mit dem Konsumverhalten" - die Älteren haben ihr Einkaufsverhalten aus jüngeren Jahren beibehalten.

Die französische Bekleidungsmarke Comptoir des Cotonniers hat das Potential der Mütter früh erkannt. Seit 1997 sind in den Werbekampagnen keine Models mehr zu sehen, sondern echte Mutter-und-Tochter-Gespanne, die bei Castings ausgesucht werden. Comptoir des Cotonniers ist vielleicht das erste Label, das in seiner Kommunikation explizit nicht nur das ganz junge, sondern ein generationsübergreifendes Publikum anspricht. Kommunikationschef Nicholas Bertrand fasst seine Erfahrungen während der Shootings folgendermaßen zusammen: "Mütter wollen durchaus Modereferenzen mit ihren Töchtern teilen, aber in Trendfragen sind die Töchter die Chefs." Und wer zahlt die Einkaufstüten bei Comptoir de Cotonniers? Laut Bertrand sind es auch dort "vor allem die Mütter".

Die Hansens lieben ihre Shoppingtrips, vor allem weil sie gemeinsame Zeit bedeuten. "Ich habe das Gefühl, dass wir immer mehr auf Augenhöhe sind", sagt Julia Hansen. "Sicher ist sie immer noch meine Mama, aber wir sind auch beide Frauen. Ich genieße es, sie als solche zu treffen", sagt sie im Hinausgehen - und schleppt ihre Mutter weiter, in die Acne-Boutique nebenan.

© SZ vom 17.09.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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