"Lion":Wie ein Junge nach 25 Jahren nach Hause fand

Lesezeit: 6 Min.

Saroo Brierley, wieder vereint mit seiner leiblichen Mutter. (Foto: Privat/Universum Film)

Saroo Brierley ist fünf Jahre alt, als er in Indien in einen Zug klettert und verschwindet. Es dauert ein Vierteljahrhundert, bis er seine Mutter wiedersieht. Die wahre Geschichte hinter dem oscarnominierten Film "Lion".

Von Verena Mayer

Die Geschichte beginnt ganz klein, mit einer Frau in Australien, die Sinn in ihr Leben bringen will. Sie beschließt, nicht schwanger zu werden, weil es in ihren Augen schon genug Menschen auf der Welt gibt. Stattdessen adoptierten sie und ihr Mann einen kleinen Jungen aus einem indischen Waisenhaus. Um einem Kind ein Leben zu ermöglichen, das es sonst nicht hätte, im Wohlstand und in einer intakten Familie. Und doch wird diese Geschichte einmal um die ganze Welt gehen, sie wird niemanden unberührt lassen, der sie hört, und aus dem adoptierten Jungen wird eine Art Sagenheld des globalen Zeitalters werden.

Der Junge heißt Saroo Brierley und ist heute 35 Jahre alt. Ein athletischer Mann mit kurzem schwarzen Haar, der in ein Berliner Hotelfoyer kommt, um Interviews zu geben und über den Film zu reden, der aus seinem Leben gemacht wurde. "Lion - der lange Weg nach Hause" heißt er, was allerdings eine große Untertreibung ist. Denn Brierley war kein Waisenkind, sondern er ist mit fünf auf einem Bahnhof verloren gegangen. Und dann brauchte er insgesamt 26 Jahre, bis er seine Familie und sein Zuhause wiederfand.

"Lion" im Kino, Mit Google Earth die Heimat finden (Video: Süddeutsche Zeitung)

Doch bevor er beginnt, diese Geschichte zu erzählen, lässt sich Brierley erst mal in einen Sessel plumpsen und nimmt einen Schluck aus einer Wasserflasche. Er hat 24 Stunden Flug aus Australien hinter sich, wirkt aber erstaunlich frisch. Er sei das Reisen inzwischen gewohnt, sagt er, in den vergangenen Jahren hat er seine Geschichte in Australien, Asien und Amerika erzählt, und immer wieder passiert es ihm, dass er irgendwo ein Taxi nimmt, und der Fahrer sagt zu ihm: Sie sind doch der Junge, der versehentlich in einen Zug stieg und mehr als tausend Kilometer fuhr.

Ja, der Zug. Es sei ihm ein Rätsel, warum er damals in diesen Zug kletterte, sagt Brierley. Bis heute hat er allerdings diese Bilder im Kopf. Wie er auf dem Bahnhof der kleinen indischen Stadt saß, in der er mit seiner Mutter und drei Geschwistern lebte, vor ihm die Schienen und ein Wasserturm. Er war mit seinem großen Bruder unterwegs, der auf den Gleisen nach Kohlen und Essensresten suchte und ihm befohlen hatte, auf dem Bahnsteig zu warten. Als der Bruder nicht auftauchte, stieg Saroo in einen Schlafwagen, der auf dem Bahnhof stand. Irgendwann setzte sich der Zug in Bewegung, und das Nächste, was Brierley weiß, ist, dass er im 1600 Kilometer entfernten Kalkutta ankam und ganz allein auf sich gestellt war. Ein fünfjähriges Kind, das nur seinen Vornamen sagen konnte und den Namen des Slums, aus dem es stammte.

Brierley kann sich noch gut daran erinnern, wie er sich damals fühlte. Verloren, aber auch kämpferisch. Er suchte bei Straßenkindern oder in Tempelanlagen Zuflucht, stocherte auf der Müllkippe nach Dingen, die er essen oder verkaufen konnte, rannte in letzter Minute vor einem Mann davon, der ihn missbrauchen wollte. Irgendwann brachte ihn jemand in ein Waisenhaus, das über eine Zeitungsannonce seine Eltern suchen ließ. Als sich niemand meldete, wurde Saroo zur Adoption freigegeben und nach Australien vermittelt. Er kam zu einem Mittelschichtsehepaar, das etwas Sinnvolles tun wollte. Nach Saroo adoptierte es noch einen zweiten Jungen aus Indien.

Seine Adoptiveltern nennt Brierley immer nur "Mum und Dad". Wenn er über sie spricht, wird seine Stimme weich. Man merkt, wie viel ihm an dieser Familie liegt, bis heute arbeitet er im Betrieb der Brierleys, die in Tasmanien mit Bootszubehör handeln. Mum und Dad hätten in seiner Kindheit alles richtig gemacht, sagt Brierley. In seinem Zimmer hing eine Karte von Indien, an Regentagen saß er mit seiner Mutter zusammen und redete mit ihr über seine Vergangenheit und darüber, warum er anders aussah als die Kinder in der Nachbarschaft.

Alles, was Brierley hatte, waren die Bilder im Kopf

Die drängenden Fragen kamen erst, als er Mitte 20 und an der Uni war. Wo er auf indische Studenten traf, ihre Sprachen hörte, ihr Essen aß. Und er merkte, dass er das Rätsel seiner Herkunft lösen musste. Herausfinden, woher er kam, wo seine Familie war. "Man muss die Vergangenheit kennen, um in die Zukunft sehen zu können, sonst geht man verloren."

Im Gegensatz zu anderen Adoptivkindern hatte Brierley keine Unterlagen, er wusste nicht einmal, wann er geboren wurde und wie sein Nachname lautete. Alles, was er hatte, waren diese Bilder im Kopf. Vom Bahnhof, auf dem er in den Zug gestiegen war, von den Schienen und vom Wassertank davor. Brierley begann, im Internet zu recherchieren, welche Züge Mitte der Achtzigerjahre in Indien verkehrten. Er lud sich das Programm Google Earth herunter, eine Art virtuellen Globus, und drehte dort buchstäblich jeden Stein um. Zoomte Felder, Hügel und Flüsse im Umkreis von Kalkutta heran, scrollte sich durch Städte, Straßen, Häuserblöcke, Tempelanlagen, über Wochen und Monate. Mum und Dad habe er nichts davon erzählt, sagt Brierley, aus Angst, undankbar zu erscheinen.

"Eine Obsession" nennt Brierley seine Suche. Er vernachlässigte sein Studium und seine Freunde, bis er eines Tages tatsächlich auf einem Satellitenbild im Internet den Bahnhof erkannte, die Schienen und den Wassertank. Und ein Viertel fand, das einen ähnlichen Namen trug wie der Slum aus seiner Erinnerung. 2012 setzte er sich ins Flugzeug und traf tatsächlich seine indische Familie wieder. Seine Mutter war all die Jahre nicht aus dem Slum weggezogen, weil sie fest daran glaubte, dass ihr Sohn eines Tages wiederkommen würde.

Ein globales Märchen mit einem Happy End, wie geschaffen für Bücher, Filme und Talkshows. Und doch wirft diese Geschichte immer mehr Fragen auf, je öfter man sie erzählt. Was das eigentlich für eine Welt ist, in der einerseits ein Kind nicht zu seinen Eltern zurückgebracht werden kann. Und in der sich andererseits ein Ort aufspüren lässt, von dem man nur ein paar Erinnerungen hat. Die Geschichte von Brierley ist zudem eine über den Sinn von Auslandsadoptionen. Darüber, was es für Kinder bedeutet, wenn sie in ein vollkommen anderes Umfeld verpflanzt werden, und wie sehr sie die Suche nach ihren Wurzeln quälen kann. Viele Länder in Asien und Afrika haben Adoptionen ins Ausland daher inzwischen stark eingeschränkt.

SZ PlusKindliche Bindungsstörungen
:Die frühen Jahre sind die wichtigsten

Kinder brauchen Bezugspersonen, zu denen sie eine sichere Bindung aufbauen können. Nicht alle haben dieses Glück. Das hat gravierende Folgen.

Von Astrid Viciano

Saroo Brierley hat dazu eine ganz eindeutige Meinung: Er hofft, dass die Regierungen ihre "Politik der harten Herzen" beenden und die Grenzen wieder für Adoptiveltern aus dem Ausland öffnen. "Ich bin doch ein gutes Beispiel dafür, dass es über die Kontinente hinweg funktioniert." Er gibt aber zu, dass er eine Ausnahme ist, weil er im Wissen aufwuchs, dass er verloren gegangen war und seine Eltern ihn nicht weggegeben hatten - aus Armut oder Scham oder weil sie ein Kind nicht mehr wollten. So wie den indischen Jungen, den die Brierleys nach ihm aufnahmen. Saroos Adoptivbruder fasste in seinem neuen Leben nur schwer Fuß, er wurde in der Schule gemobbt, nahm Drogen.

Brierley fährt inzwischen regelmäßig nach Indien, seine beiden Familien kennen sich. Alle zwei Wochen telefoniert er mit seiner indischen Mutter und den Geschwistern. Nur seinen großen Bruder hat er nicht wiedergesehen. Er wurde von einem Zug überrollt, als er an den Gleisen nach dem fünfjährigen Saroo suchte. Bis heute verfolgt Brierley das schlechte Gewissen, dass er damals nicht auf seinen Bruder gewartet hatte.

Er guckt auf die Uhr, weitere Interviews stehen an, Auftritte auf dem roten Teppich. Mit dem globalen Hype habe er nicht gerechnet, sagt Brierley. "Meine Geschichte ist irre, aber sie ist nur eine Variation der Story jedes erfolgreichen Menschen: dass man Ambitionen hat, klein anfängt und etwas durchzieht." Oft werde er gefragt, ob er religiös sei und woran er glaube. Er verstehe das, weil sein Leben die Menschen im Innersten berühre, in ihrem Bedürfnis herauszufinden, woher man kommt. Aber er sei weder gläubig, noch habe er "eine besonders komplexe Persönlichkeit", sagt Brierley. "Ich will nur die Geschichte einer Person erzählen, die ihrem Schicksal entging, weil sie es in die Hand nahm." Selbst als Kleinkind auf den Straßen von Kalkutta habe er das Gefühl gehabt, Entscheidungen treffen zu können, die Wahl zu haben, da oder dorthin zu gehen, aufzustehen oder auf der Straße sitzen zu bleiben.

Aber eigentlich erzählt diese Geschichte von der Erinnerung. Wie man sie bewahrt und welche Kraft sie haben kann. Brierley hatte all die Jahre die Bilder seiner indischen Kindheit vor Augen. Den Ort, an dem er verloren ging, aber auch sein Haus, die Landschaft, in der er spielte, die Straßen, in denen er mit seinem Bruder unterwegs war. Er erinnerte sich an das Gesicht und die Worte seiner Mutter, an die Geschmäcker seiner Kindheit. Warum er so präzise Erinnerungen hat, kann er nicht sagen. Brierley glaubt, es habe damit zu tun, dass er als kleines Kind weder lesen noch schreiben konnte und sich auch nicht mit vielen Leuten unterhielt. Stattdessen habe er das, was ihn umgab, visuell wahrgenommen. Bilder, die er immer wieder abrief, abends beim Einschlafen und dann, wenn er sich einsam fühlte. Diese Erinnerungen hätten ihn schon getröstet, als er noch nicht einmal zu träumen wagte, wohin sie ihn eines Tages führen würden.

© SZ vom 25.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ JetztInterview
:Das unterirdische Waisenhaus von Aleppo

Der Syrer Asmar Alhalaby ist 28 Jahre alt und leitet im umkämpften Aleppo ein Waisenhaus, das halb unter der Erde liegt. Ein Gespräch über Normalität im Krieg und Kinder, die Bombenarten unterscheiden können.

Interview: Dunja Ramadan

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: