Kussverbot in Innsbruck:"Ein Kuss ist keine harmlose Sache"

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"Wer im öffentlichen Raum küsst, zwingt Fremde zur Teilnahme. Das kann dazu führen, dass diese sich peinlich berührt fühlen", sagt die Sexualwissenschaftlerin Ingelore Ebberfeld.  (Foto: Sindy / photocase.com)

Was gehört zu einem romantischen Candle-Light-Dinner mit trockenem Wein? Feuchte Küsse, klar. In Österreich kann man fürs Knutschen vor die Tür gesetzt werden. In Deutschland hat eine Sexualwissenschaftlerin dagegen einen "Durchbruch der Kussfreudigkeit" festgestellt.

Von Jana Stegemann

Nein, das passte dem Innsbrucker Gastwirt gar nicht. Ein Pärchen tauschte an einem seiner Tische Zärtlichkeiten aus - also setzte Kerameddin Korkmaz sie vor die Tür. Schließlich herrscht in seinem Restaurant "Insieme" am Hauptbahnhof absolutes Kussverbot. Das ist auch nachzulesen auf einem kleinen Hinweisschild, das neben der Hausordnung hängt. Darauf steht: "Aus Respekt vor unseren Mitarbeitern und internationalen Gästen bitten wir Sie, Zärtlichkeiten in unserem Lokal zu unterlassen."

Der gebürtige Türke kam Anfang der Neunziger Jahre in die Stadt des Goldenen Dachl. "Ich gehe nicht mit einer Dame in ein Lokal, um zu fummeln, das soll man Zuhause machen. Seine Sexualität muss man nicht überall ausleben", sagte Korkmaz der Tiroler Tageszeitung. Die Bedeutung des Restaurantnamens - "Insieme" bedeutet im Italienischen "zusammen" - sollten Gäste in Innsbruck also nicht zu wörtlich nehmen.

Das Kussverbotsschild hängt im "Insieme" zwar schon seit mehreren Jahren, doch die Aufregung ist aktuell nach dem Rauswurf des Liebespaares wieder groß. Darf der Gastwirt das überhaupt? Und wie sieht es in Deutschland mit dem Küssen in der Öffentlichkeit aus? Zu wenig Verbote, zu viel Freizügigkeit?

Der Umgang mit Sexualität scheint in Deutschland so offen wie nie zu sein. In der jüngeren Generation weiß nahezu jeder von jedem, was er denn gerne so mag im Bett. One-Night-Stands und Sado-Maso-Praktiken werden toleriert und praktiziert. Die besten Sex-Stellungen können in Lifestyle-Zeitschriften nachgelesen werden, die Aufspritzung des G-Punktes und die Verkleinerung der Schamlippen gehören längst zum Repertoire der Schönheitschirurgen zwischen Düsseldorf und München. Die weltgrößte Erotikfachmesse Venus in Berlin zieht seit 1997 Zehntausende Besucher aus ganz Deutschland an.

Doch auch hierzulande finden sich durchaus Stimmen, die öffentliche Lippenbekenntnisse keineswegs für uneingeschränkt gesellschaftsfähig halten.

Skandalträchtiger Zungenkuss

"Ein Kuss ist keine harmlose Sache", sagt Ingelore Ebberfeld, "er steht vielmehr als Geste für das, was noch kommen kann." Die Bremer Kulturanthropologin und Sexualwissenschaftlerin forscht seit Jahrzehnten zum Thema Sexualität. Das öffentliche Kussverhalten in Deutschland habe sich in den vergangenen 20 Jahren stark gelockert, so die 60-Jährige. "Früher schloss ein Film oft mit der Kussszene. Heute braucht man als Fernsehzuschauer kaum mehr eigene Phantasie, denn oft wird nach zehn Minuten eine Etage tiefer geküsst", sagt Ebberfeld.

Aber: "Es darf nicht alles und nicht jeder geküsst werden. Der leidenschaftliche Zungenkuss zwischen Madonna und Britney Spears war sogar 2003 noch skandalträchtig."

Bei den MTV Awards in New York hatten sich die Popsängerinnen zu den Klängen von "Like a Virgin" geküsst - im als prüde verschrienen Amerika. Ein Kuss kann also auch noch im 21. Jahrhundert heikel sein, auch im vermeintlich aufgeräumten Europa.

Die Zeiten von Kusskontrolleuren - in den dreißiger Jahren sorgten diese dafür, dass an Bahnsteigen keine Zärtlichkeiten ausgetauscht wurden - sind zwar vorbei. Doch das Küssen in der Öffentlichkeit muss immer noch verhandelt werden. Liebespaare bewegen sich auf einem schmalen Grat. Das hat nicht nur mit gesellschaftlichen Normen zu tun - auch die persönliche Empfindung wird zum Maßstab.

"Nehmen wir an, ein Pärchen in einem Zugabteil küsst sich so intensiv, dass nicht mehr viel zum nächsten Schritt fehlt. Es bringt die anderen Menschen so in Verlegenheit", sagt Sexualwissenschaftlerin Ebberfeld. Aber können die Unbeteiligten nicht einfach wegsehen? "Nein, das Pärchen zieht Fremde unbewusst in ihre Intimität hinein. Wer im öffentlichen Raum küsst, zwingt Fremde zur Teilnahme. Das kann dazu führen, dass diese sich peinlich berührt fühlen."

"Die meisten Menschen haben ein Feingefühl für den richtigen Umgang mit Küssen in der Öffentlichkeit", so die Forscherin. "Nur einige nicht, das mag am Alter oder am Alkoholpegel liegen."

Während öffentliches Küssen in China bis in die fünfziger Jahre verboten war und es im arabischen Raum bis heute ist, hat Ebberfeld in Deutschland mit Beginn der sechziger Jahre einen "Durchbruch der Kussfreudigkeit" festgestellt. Es wurde nun geknutscht, was die Lippen hergaben. Aber nur im halböffentlichen Raum: "Petting machte man im Auto, nicht auf der Straße", so die Sexualwissenschaftlerin. Auch das Begrüßungsritual habe sich von da an verschoben. Während sich die Menschen sonst formell die Hand reichten, berührten sie sich in Folge zunehmend an den Schultern, gaben sich Begrüßungsküsschen. Deutschland sei etwa vergleichbar mit Spanien und Frankreich, was die Akzeptanz von öffentlichen Küssen angehe, so Ebberfeld.

Verlobt durch einen Kuss

Im Land der Amore, dort wo bis vor kurzem der Bunga-Bunga-Präsident das Sagen hatte, sieht das aber schon wieder anders aus. In Italien gebe es Regionen, so Ebberfeld, in denen ein Kuss eine brenzlige Sache sei: "Wenn sich in einem kleinen Ort in Sizilien zwei Menschen küssen, sind sie verlobt. Je kleiner der regionale Zirkel, desto kontrollierter die Situation. Hier ist ein Kuss nicht länger just for fun, sondern hat weitreichende Folgen für die Beteiligten."

In der Wirtschaftskammer Tirol sieht man den Vorfall am Innsbrucker Hauptbahnhof gelassen. Ja, es gebe seit Jahren immer mal wieder Beschwerden von Gästen, die rausgeworfen wurden, und ja, man habe bereits den Kontakt zu dem Gastwirt gesucht. "Wir haben versucht, ihm deutlich zu machen, dass es in unserem Kulturkreis gang und gäbe ist, seine Zuneigung öffentlich zu zeigen. Das ist seiner Ansicht nach aber zu liberal und daher möchte er bei seiner Entscheidung bleiben", sagt Peter Trost, zuständig für Gastronomie und Tourismus in der österreichischen Behörde. "Natürlich ist die Regelung ein bisserl fragwürdig. Aber das müssen wir akzeptieren." Das Hausrecht sei auf der Seite des Gastwirtes.

Ansonsten habe Innsbruck aber ein Herz für die Liebenden: "Hier hat generell niemand was gegen das Küssen, Liebespaare sind herzlich willkommen", beeilt sich Tirols Tourismus-Beauftragter zu betonen.

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