Kurt Diemberger über:Pioniere

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Der Kärntner ist einer von nur zwei Menschen, denen die Erstbesteigung von zwei Achttausendern gelang. Der Bergsteiger spricht über gefälschte Gipfelfotos und das Ende der Abgeschiedenheit.

Interview von Titus Arnu

Die Höhenmesser-App des Smartphones zeigt knapp 200 Meter an. Lächerlich wenig für Kurt Diemberger, 84, Erstbesteiger von zwei Achttausendern. Diemberger sitzt vor seinem Haus bei Bologna. Sein Wohnzimmer sieht aus wie ein Bergsteiger-Museum: historische Eispickel, Bergstiefel aus Rentierfell, der eingedellte Prototyp eines Steinschlaghelms, Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Himalaja. Seine italienische Frau stellt Käse, Trauben, Brot und Wein auf den Tisch. Und los geht's!

SZ: Herr Diemberger, am 9. Juni 1957 gelang Ihnen zusammen mit Ihren österreichischen Bergsteiger-Kollegen Hermann Buhl, Fritz Wintersteller und Marcus Schmuck die Erstbesteigung des Broad Peak. Was ist das für ein Gefühl, auf einem Gipfel zu stehen, den noch nie jemand betreten hat?

Kurt Diemberger: An diesem Tag war Hermann Buhl nicht besonders schnell unterwegs, und er sagte während einer Rast zu mir, ich solle allein weitergehen. Marcus und Fritz waren bei meinem Eintreffen noch auf dem Gipfel, und während sie den Abstieg begannen, war ich erst etwas enttäuscht, weil ich diesen Augenblick ja mit meinem Freund Hermann zusammen erleben wollte. Beim Rückweg über den langen horizontalen Gipfelgrat traf ich plötzlich auf ihn, drehte um - und als wir schlussendlich doch gemeinsam auf dem Gipfel standen, ging gerade die Sonne unter. Das war ein Gefühl, das man eigentlich nicht beschreiben kann.

Versuchen Sie es trotzdem, bitte?

Ein Sonnenuntergang dort oben, auf über 8000 Meter Höhe, das ist ein Wahnsinnsgefühl. Einerseits sagt dir der Verstand: Du musst wieder runter, es wird dunkel. Das Herz sagte dir schon auf dem Gipfelgrat: Hinauf! Jetzt standen wir auf einer leuchtenden Insel aus Schnee, um uns herum das letzte Licht des Tages, und unter uns bereits dunkel. Im Gegenlicht der K2, dunkel, schwarz, riesig. Einer der größten Augenblicke in meinem Bergsteigerleben!

Besser als am Dhaulagiri, ein paar Jahre später?

Der Dhaulagiri war ganz anders. Am Broad Peak gab es eine gewisse Konkurrenzstimmung zwischen Schmuck und Wintersteller einerseits und Buhl und mir andererseits. Die Dhaulagiri-Expedition war eine internationale Gruppe unter Schweizer Leitung, aber das Pioniergefühl, das alle einte, war einfach da, obwohl wir aus mehreren Ländern stammten. Wir haben gewusst: Wo wir unseren Fuß hinsetzen, war vor uns noch nie jemand. Am Gipfel war es windstill, 4000 Meter unter uns grollten Gewitter. Der Dhaulagiri gilt als "Berg der Stürme", wir hatten zuvor wochenlang gegen schlechtes Wetter gekämpft. Aber oben wehte dann kein Wind. Wir haben uns in die Sonne gelegt und den Moment genossen, sagenhaft!

In den Fünfzigerjahren gab es ein Wettrennen um die höchsten Gipfel der Welt. Was war Ihre Motivation, daran teilzunehmen?

Das war aus meiner Sicht kein Wettkampf. Es ging einfach darum, noch unbetretene Gipfel erstmals zu besteigen. Natürlich haben sich die Österreicher gefreut, dass sie mit fünf erstbestiegenen Achttausendern an erster Stelle stehen, aber ich sehe das anders, mir ging es nicht um nationale Ehre.

Worum dann?

Ich hatte ein Traumbild vor Augen: den Gipfelgrat eines sehr hohen Berges, den ich immer weiter hochsteige, bis ich oben stehe. Als ich dann den Broad Peak sah, war ich anfangs enttäuscht, denn der "Breite Berg" sieht nicht so imposant aus wie etwa der K2. Und weil mir später am Gipfel des Broad Peak das Ganz-oben-Gefühl fehlte, bin ich noch bis auf den höchsten Punkt der Wechte gestiegen, von wo ich ein 360-Grad-Panorama aufnehmen konnte. Eine fotografische Pioniertat, die mich heute noch freut.

Am Broad Peak waren Sie auch Pioniere, was den Stil angeht: Sie erreichten den Gipfel ohne Unterstützung von Hochträgern und Flaschensauerstoff.

Hermann Buhl nannte das den "Westalpenstil". Wir hatten nur eine Flasche Sauerstoff bis ins Lager 2 dabei, um im Notfall etwas gegen die Höhenkrankheit tun zu können, aber wir haben sie nicht beim Steigen benutzt, auch nicht beim Schlafen.

Haben Sie Fixseile verwendet?

Wir haben fixe Seile verwendet, um über einen 500 Meter hohen, blanken Eiswall sicher hinauf- und herabzukommen. Ich habe damals einen ganzen Tag lang Stufen ins Eis geschlagen und Seile befestigt. Trotzdem: Der Alpinstil im Himalaja ist keine Erfindung von Reinhold Messner, wir haben das 1957 schon so gemacht. Gemeinsam mit Buhl bin ich nach dem Broad Peak an der Chogolisa, einem damals noch unbestiegenen Siebentausender, ohne Träger, Lagerkette und Flaschensauerstoff aufgestiegen. Nur wir zwei und ein Zelt.

(Foto: Gianmarco Maraviglia)

Dieser Versuch endete tragisch.

Ja, leider. Eine Wechte brach unter Hermann Buhl, und er stürzte in den Tod. Es geschah plötzlich und fast lautlos, und es dauerte eine Weile, bis ich verstanden habe, was passiert ist. Es hat ja überhaupt alles viel länger gedauert damals. Briefe aus Europa haben sechs Wochen bis ins Basislager gebraucht. Heutzutage kann man mit dem Satellitentelefon den Charly Gabl in Innsbruck anrufen, und der sagt einem, wann man mit einem Schönwetterfenster für den Gipfelversuch rechnen kann, im Everest-Basecamp hat man Internetanschluss.

Finden Sie diesen Informationsfluss gut oder schlecht?

Das mit der Wettervorhersage hilft natürlich. Andererseits: Als ich zum ersten Mal mit einem Satellitentelefon von einer Expedition in die entlegene Shaksgambergwüste zu Hause anrief, um zu sagen, dass alles in Ordnung sei, war das ein seltsames Gefühl. Man betrügt sich selbst um die Ferne und Abgeschiedenheit, in die man sich ja mit viel Mühe hineinbegeben hat.

Ist Pioniergeist überhaupt möglich, wenn man überall erreichbar ist?

Mit dem Satellitentelefon und der ständigen Erreichbarkeit auch an abgelegenen Orten ist uns etwas verloren gegangen. Der Vorstoß ins Ungewisse ist damit nicht mehr so ungewiss. Bergsteiger schicken heute Videotagebücher und Blogs von Expeditionen, sie zeichnen jeden Schritt mit GPS-Geräten auf und lassen sich neuerdings sogar mittels Drohnen filmen.

Schon vor den beiden Achttausender-Erstbesteigungen haben Sie in den Alpen einige Erstbesteigungen geschafft, etwa an der "Schaumrolle", einer riesigen Gipfelwechte an der Königsspitze, die mittlerweile nicht mehr existiert.

Mich hat es gereizt, einen Weg durch diesen Eis- und Schneewall auf den Gipfel zu finden. Man kann von der anderen Seite über den Normalweg fast spielend hinaufspazieren, aber die Schaumrolle schien unbezwingbar zu sein. Das hat mich angezogen, hinzu kam die Neugier: Ich wollte wissen, wie es da drin aussieht in der Rolle.

Und wie sah es dort aus?

Ein blauer Dom aus Eis, riesig. Der untere Rand war mit dem Eispickel erreichbar, aber es sah von Weitem nicht so aus, als könne man da durchsteigen. Ich habe aber doch einen Weg gefunden.

Diese Pioniertat ist bis heute umstritten, warum?

Ich hatte zusammen mit Albert Morocutti schon die Direttissima durch die Nordwand bis fast auf den Gipfel bewältigt, es fehlten nur die oberen 15 Höhenmeter, eben die Schlüsselstelle durch oder über die Schaumrolle. Diese Krönung habe ich erst eine Woche später geschafft, als ich von der Seite reingequert bin und die Walze mithilfe von Eishaken, Seil und Trittbrettern überqueren konnte. Über den genauen Ablauf gab es hinterher Streit, einer der beiden anderen Beteiligten behauptete, die Erstbegehung der Route sei seine Hauptleistung, nicht meine. Was mir ziemlich deppert erscheint.

Solche Streitereien gibt es im Alpinismus immer wieder. Früher beruhte die Wahrheit auf den Berichten von Bergsteigern, Fotos und Augenzeugen. Können moderne Techniken wie GPS-Tracking und Kameradrohnen helfen, um unbestechliches Beweismaterial zu liefern?

Im Prinzip schon. Aber auch da ist manchmal Fantasie im Spiel. Nehmen Sie das Beispiel Christian Stangl, der ein technisch erstklassiger Bergsteiger ist, aber die Wahrheit etwas korrigiert hat, um es freundlich zu sagen - wahrscheinlich, um seine Sponsoren nicht zu enttäuschen. Er behauptete, den Gipfel des K2 erreicht zu haben und fälschte das Gipfelfoto. So geht es natürlich nicht. Später hat er den K2 dann wirklich bestiegen.

Wenn Sie die Achttausender-Erstbesteiger mit der heutigen Weltspitze des Alpinismus vergleichen: Was ist aus Ihrer Sicht der Hauptunterschied?

Damals gab es kaum Profis, es war viel weniger Geld im Spiel. Ich war damals Handelslehrer, Hermann Buhl hatte schon einen Sponsor: Sport Scheck in München, die Firma, bei der er arbeitete. Aber bis ich mit Fotos, Filmen und Büchern Geld verdient habe, vergingen viele Jahre.

Und die heutigen Spitzenbergsteiger sind viel schneller und mit weniger Material unterwegs.

Das sind Top-Athleten. Nehmen Sie Ueli Steck als Beispiel: Der rennt regelrecht auf die Berge hoch. Das ist vielleicht der schnellste Bergsteiger, aber meiner Meinung nach nicht der beste.

Warum?

Weil er das, worum es mir beim Bergsteigen geht, auf eine Rennbahn reduziert. Und dabei werden die Grenzen so weit ausgereizt, dass es manchmal nur noch ein Vabanque-Spiel ist. Je schneller man unterwegs sein will, desto weniger Material kann man mitnehmen, und desto gefährlicher wird es. Was hat man von der depperten Rennerei? Dieses Hinaufrasen und das ganze Rekordwesen ist sicherlich sehr sportlich - aber da fehlt für mich der Kern des Bergsteigens.

Was genau wäre denn der Kern?

Der Berg ist kein Sportgerät. Diese Herangehensweise wertet den Berg ab, finde ich. Ich sehe ein, dass es Kletterhallen mit künstlichen Wänden gibt, wo man Wettkämpfe austragen kann. Aber es ist ein Unsinn, dieses Kletterhallen-Denken ins Gebirge zu tragen. Man kann vielleicht bestimmte Routen für einen Wettbewerb auswählen, aber grundsätzlich ist jeder Berg anders, und es gilt, ihn zu entdecken - immer wieder! Wer seine Perspektive auf eine Abfolge von Griffen und Tritten verengt, mag ein guter Athlet sein - den Berg, das Wetter, die Landschaft blendet er aber zwangsläufig aus. Merke: Wenn du was sehen willst von der Welt, darfst du nicht die ganze Zeit rennen. Das gilt nicht nur im Alpinismus.

Dass Klettern und Bouldern gerade bei jungen Leuten wieder sehr populär wird, müsste Sie doch eigentlich freuen?

Mit Schaudern habe ich einen vom italienischen Alpenverein prämierten Film gesehen, in dem junge Burschen mit weichen Matten in einen Bergwald gewandert sind und einen Felsen mit Drahtbürsten von Farnen und Moosen gereinigt haben, um dort einen Klettergarten einzurichten. Was soll der Unsinn? Ich bin Ehrenpräsident von Mountain Wilderness International, und solche Sachen gehen mir gegen den Strich. Das gilt auch für riskante Extremsportarten wie Wingsuit-Fliegen von exponierten Gipfeln und Kanten: Das führt halt leider sehr oft zum Tod.

Was gibt es heute noch für lohnenswerte Ziele im Alpinismus?

Da gibt es noch sehr viel! Genug unberührte Sechs- und sicherlich auch einige Siebentausender, dazu an den Achttausendern Routen und Nebengipfel, die noch nicht begangen wurden, zum Beispiel im Karakorum oder in Ost-Tibet. Dort kann man auch heute noch Pionier sein. Durch die Erderwärmung werden sich außerdem viele Berge so verändern, dass manche Routen, die bisher unmöglich erschienen, in Zukunft machbar sein werden, etwa der Hidden Peak von der China-Seite.

Heutzutage sind Achttausender auch für Laien "machbar". Was halten Sie als Erstbesteiger davon?

Wer auf den Everest gehen will, sollte vorher ohne Probleme einen Sechstausender bestiegen haben und einen leichten Siebentausender. Er sollte auch unbedingt in der Lage sein, seine Steigeisen ohne Hilfe anzuziehen, und noch einiges mehr. Ganz verhindern können wird man den Everest-Tourismus wohl nicht, denn er bringt Nepal halt einen Haufen Geld. Dass dabei Leute sterben, nimmt man in Kauf, und die Teilnehmer wissen das ja auch.

Sie sind dem Tod oft nahe gekommen. Hermann Buhl starb vor Ihren Augen, Ihre Bergpartnerin Julie Tullis starb bei einer K2-Besteigung im Jahr 1986. Haben Sie da nicht den Mut verloren?

Man kann die Bergleidenschaft nicht abschalten, selbst wenn man mit dem Bergsteigen aufhört. Ich bin jahrelang mit der Kamera unterwegs gewesen und habe 1983 mit Julie Tullis "das höchste Filmteam der Welt" begründet. Nach der K2-Tragödie bin ich zu all den Plätzen hin, wo ich mit Julie gewesen war. Das hat etwas geholfen.

Sind Sie noch oft in den Bergen?

Natürlich reiße ich an den großen Bergen selbst nichts mehr - das geschieht im Kopf oder manchmal mit einem guten Tipp für die Jungen, die aufbrechen. Noch immer gelte ich als "Hausmeister des Shaksgam", denn ich war schon sieben Mal in dieser Bergwüste jenseits des K2. Dort steht auf 4000 Meter ein Fass für das nächste Mal versteckt, mit Ausrüstung und Thunfisch.

Ernsthaft? Wollen Sie wirklich noch mal an den K2, mit 84?

Ob ich da noch hinkomme? Seit einem Sturz mit dem Mountainbike bin ich jetzt lieber zu Fuß mit Traversierungen im Bereich der Edelweißwiesen unterhalb des Matterhorns und des Montblanc unterwegs. Oder im Apennin. Nach einem Cappuccino unten im Dorf steige ich mit Skistöcken zu unserem Haus hinauf.

© SZ vom 04.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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