Kultserie:Doktor im Norden

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"Der Landarzt" ist die langlebigste deutsche Arztserie: Zu Besuch bei Medizinern, die am Drehort jeden Tag in der rauen Realität arbeiten.

Von Thomas Hahn

Es herrscht heitere Stimmung beim Wiedersehen auf Gut Lindauhof in Boren an der Schlei. Die Reisegruppe "Auf den Spuren des ZDF-Landarztes" hat den Höhepunkt ihrer Tagestour durch Angeln und Schwansen erreicht. Lauter fidele Seniorinnen und Senioren aus der Pfalz spazieren über das Pflaster des Hofs und freuen sich. Die Steintreppe, das reetgedeckte Gutshaus, die beiden Bäume, welche die dunkelgrüne Eingangstür einrahmen - alles wie im Fernsehen. Hier haben die Serien-Doktoren Karsten Mattiesen, Ulrich Teschner und Jan Bergmann in ihren jeweiligen Staffeln die Patienten empfangen. Auch das Innere des Hauses mustern die Gäste mit Kennerblicken. Da war der Empfang der Praxis, dort ging es zum Arztzimmer. Vor allem die Damen sind im Bilde. Den Landarzt mit seiner ausgeruhten Art und seinen überschaubaren Problemen haben sie immer gerne gesehen.

Es gibt Landarzt-Touren, ein Landarzt-Café, und sogar eine Landarzt-Kneipe

Unter künstlerischen Gesichtspunkten ist "Der Landarzt" nicht unbedingt der größte Wurf des deutschen Fernsehens gewesen. Aber immerhin: Keine deutsche Arztserie lief länger als diese, von 1987 bis 2013 in 22 Staffeln und 297 Episoden. Das Publikum muss seinerzeit angetan gewesen sein, sonst wäre diese Erfindung des 2001 verstorbenen Drehbuchautors Herbert Lichtenfeld viel schneller aus dem Vorabendprogramm gefallen. Heute sendet das ZDF jeden Samstagmittag Wiederholungen. Und in der Gegend um Schleswig und Kappeln vergisst niemand mehr den Fernseh-Landarzt. Hier, an den Ufern des Ostsee-Armes Schlei, in einem der schönsten Landstriche Schleswig-Holsteins, ist die Serie einst gedreht worden. Die örtlichen Fremdenverkehrsschaffenden würden ihr Handwerk schlecht verstehen, wenn sie diesen Standortvorteil nicht nutzen würden. Sie organisieren Landarzt-Touren zu den Drehorten. Der Lindauhof, den die Familie Karberg 25 Jahre lang immer von April bis Oktober dem ZDF als Landarzt-Praxis vermietet hatte, ist jetzt ein Café mit dem Untertitel "Landarzthaus". In Kappeln kann man in der "Landarzt-Kneipe" einkehren, in welcher immer der Stammtisch der Protagonisten stand.

"Landarzt" ist an der Schlei eine Marke geworden, die einen Hauch von weiter Fernsehwelt in die Provinz trägt. Eine Attraktion. Ein Publikumsgarant. Mit so viel Glamour können die richtigen Landärzte der Gegend natürlich nicht dienen. Dafür können sie erzählen, wie es wirklich zugeht im Leben eines niedergelassenen Provinz-Mediziners. In dieser Hinsicht ist die Serie nämlich doch ein wenig zu schön gewesen.

"Gemeinschaftspraxis Dr. med. Uwe Fischer, Arzt für Allgemeinmedizin, Dr. med. Sandra Sengupta, Internistin", steht auf dem Schild vor einem unscheinbaren weißen Haus in Süderbrarup, Raiffeisenstraße. Es ist ein Mittwoch. Mittwochs schließt die Praxis schon um zwölf, und die Doktoren haben ein bisschen Zeit. Dass sie keine ausgeruhte Art hätten, kann man gar nicht sagen. Aufrecht und freundlich sitzen sie im Aufenthaltsraum der Sprechstundenhilfen. Allerdings fehlt ihnen jene glatte, seltsam überbetonte Vorabendserienlaune, die beim Publikum Sympathie wecken soll. Klar, Fischer und Sengupta sind ja auch echt. Uwe Fischer, ruhig, bedacht, 63, kam 1999 aus Erlangen in die Süderbraruper Praxis und besitzt sie seit 2010. Sandra Sengupta, quirlig, beredt, 43, stammt aus Gaggenau, studierte in Freiburg, arbeitete zunächst am Krankenhaus in Schleswig und ist seit acht Jahren bei Fischer angestellt. Sie erleben jeden Tag am eigenen Leib, was es heißt, die medizinische Versorgung auf dem Land zu bewerkstelligen.

Die Medizin hat einen hohen Stellenwert im Fernsehen. Krankenhäuser und Notfallstationen eignen sich gut als Kulisse für dramatische Geschichten von Leid und Lebensrettung. Der deutsche Fernseharzt hat sich dabei allerdings oft genug als das idealisierte Abbild eines echten Doktors gezeigt: charmant, edel, so gut wie unbehelligt von den weniger unterhaltsamen Sorgen des Alltags. Der ZDF-Landarzt steht in dieser Tradition als harmlose Hauptfigur in einem Geflecht aus Geschichten um Liebe und Krankheit. Unterhaltungsfernsehen darf ja auch mal gefällig sein. Inhaltlich wird es dann halt leicht etwas dünn.

Sandra Sengupta kennt die Serie gar nicht. Uwe Fischer schon. Seine Tochter hat als Kleinkind sogar mitgespielt, sie war die Klein-Olga. Er weiß noch, wie die Familie immer vor dem Fernseher saß und sie die Orte der Szenen erkannten. Er weiß auch, was die Serie für die Gegend brachte: Arbeitsplätze, Werbung, gemeinnützige Aktionen. "Alle waren schon sehr traurig, als sie eingestellt wurde." Aber als Porträt seines Berufsstandes hat er sie nie ernst nehmen können. Er hat nicht alle Folgen gesehen, gut möglich also, dass er ein paar hintergründige Szenen verpasst hat. Aber außer von Dr. Mattiesen, dem ersten Landarzt, den Christian Quadflieg spielte, hat er nie Klagen über die Umstände seines Berufs gehört. Stattdessen sah er: Sonne, Frieden, Medizinerglück. "Das hatte mit dem wirklichen Arztleben nicht viel zu tun."

Im Fernsehen läuft alles rund - aber was tun, wenn es weniger Budget für mehr Patienten gibt?

Ihren Fernseharzt sehen die Leute gern, ihren richtigen Arzt weniger, und wenn sie ihn doch sehen müssen, interessieren sie sich nicht für seine Nöte. Der Ärztemangel auf dem Land ist ein bekanntes Phänomen. Junge Doktoren bleiben lieber in der Stadt, als sich die eingeschränkte Konsumwelt des ländlichen Raumes anzutun. Die Politik versucht zu reagieren. Im "Masterplan Medizinstudium 2020", den Bund und Länder 2017 beschlossen, steht das Vorhaben, Studienplätze an jene schneller zu vergeben, die später Landarzt werden. Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Schleswig-Holstein betreibt seit 2011 eine Nachwuchs- Kampagne, die zunächst unter dem Motto "Land. Arzt. Leben!" lief.

Zuletzt spielte Wayne Carpendale den Landarzt Dr. Jan Bergmann. (Foto: imago)

Aber die Ansprüche der Patienten bleiben hoch. Sandra Sengupta sagt: "Ich sehe keine Initiative, die die Situation der Landärzte verbessert." Uwe Fischer stimmt zu.

Als er 1999 nach Süderbrarup ins Bundesland seiner Frau kam, waren hier neun niedergelassene Ärzte. Jetzt sind es fünf. "Das merken wir. Der Mangel ist größer geworden." 2000 Patienten versorgt die Praxis insgesamt, an manchen Vormittagen kommen bis zu 70. Manche müssen bis zu zwei Stunden warten. Andere sind sauer, weil die Fachärzte überlastet sind und deshalb die Überweisung oft keinen zeitnahen Termin bringt. Außerdem sind Sengupta und Fischer in die Notfallversorgung der Region eingebunden. Sie übernehmen an Wochenenden Notdienste in der Anlaufpraxis in Kappeln, Uwe Fischer hat früher auch 24-Stunden-Bereitschaftsdienste geleistet, Sandra Sengupta fuhr Rettungsdienste.

Ihre Tage beginnen früh, sehen wenige Pausen vor, viel Papierkram und enden im günstigen Fall nach zehn Stunden. "Wir nehmen praktisch alle an. Wir können die Leute ja nicht abweisen", sagt Fischer.

Anstrengend. Aber das eigentliche Problem ist ein anderes: Der Aufwand geht mit einem Thema einher, das für jede deutsche Vorabendserie zu trocken wäre. Arztpraxen in Deutschland unterliegen einer Budgetierung durch die KV. Die Medikamente, Therapien oder Laboruntersuchungen, die sie ihren Patienten verschreiben, dürfen eine bestimmte Summe nicht überschreiten. Sandra Sengupta und Uwe Fischer müssen also nicht nur bedenken, was ihren Patienten hilft, sie müssen auch wissen, was es kostet.

Die Zeit reicht nie, um den Kranken die Aufmerksamkeit zu geben, die für sie bräuchten

Erst in diesem Jahr hat die KV wieder das Laborbudget gekürzt. Gleichzeitig schloss in Süderbrarup eine Praxis, weil der Kollege keinen Nachfolger fand. Viele seiner Patienten werden künftig in die Raiffeisenstraße kommen, Sandra Sengupta und Uwe Fischer werden mehr Laboruntersuchungen denn je auf den Weg bringen müssen. Aber das Budget der geschlossenen Praxis fällt weg und es wird auch nicht den verbliebenen Praxen zugeschlagen.

Uwe Fischer sagt: "Auf der einen Seite gibt es Leitlinien, die vorschreiben, dass man bei bestimmten Medikamenten das Blut kontrollieren muss. Auf der anderen Seite kürzt uns die KV unser Budget." Wenn die Rechnung aufgehen soll, müssen sie auf Honorar verzichten. Sandra Sengupta versteht die Logik dahinter nicht. "Manchmal bin ich richtig sauer, weil das System einem die Arbeit verdirbt."

Die Seniorinnen der Pfälzer Reisegruppe nicken verständnisvoll, wenn sie davon hören, dass ein Fernsehlandarztleben nicht mit dem echten Leben zu vergleichen sei. Sie sind in einem Alter, in dem man den Wert einer guten Hausarztversorgung nicht mehr unterschätzt. Aber gerade deswegen sind sie vielleicht ganz dankbar dafür, dass die Serie nicht zu nah an der Wirklichkeit ist. Im ländlichen Raum leben viele alte Leute in schönen Häusern wie Gefangene ihrer späten Jahre. Die Kinder sind fort, die Ehepartner gestorben, der öffentliche Nahverkehr ist dünn. Wenn Sandra Sengupta eine Landarztserie konzipieren dürfte, würde sie die Hausbesuche bei diesen Leuten zum Thema machen. "Altersarmut. Wie die Witwen leben."

Sie und Uwe Fischer sind viel unterwegs mit ihrem Arztkoffer. Ihr Gebiet verläuft im Umkreis von bis zu 15 Kilometern um Süderbrarup, Orte wie Ulsnis, Scheggerott, Dollrottfeld, Loit gehören dazu. Sie kommen in entlegene Katen, blicken dort immer wieder in matte Gesichter, spüren die kleine Freude, dass doch mal jemand kommt, sehen Tränen über faltige Wangen rollen. Uwe Fischer sagt: "Man erlebt viel Einsamkeit, Depressionen, Angstgefühl, psychosomatische Schmerzen." Die Zeit reicht nie, um den Menschen die Aufmerksamkeit zu geben, die für sie wahrscheinlich die beste Medizin wäre. Aber ob das ein Thema wäre, das der älteren Zielgruppe einer Landarztserie die Entspannung bringt, die sie sich vom Fernsehen erwarten?

In der Nähe von Schleswig, wo die ZDF-Serie gedreht wurde, arbeiten Sandra Sengupta und Uwe Fischer in einer Gemeinschaftspraxis. (Foto: Thomas Hahn)

Sandra Sengupta und Uwe Fischer wissen schon: Ihre Sorgen passen nicht gut ins Fernsehen. Sie verbergen sich hinter klobigen Worten wie Niederlassungssperre - auch so ein Vermächtnis des Gesundheitsministers Horst Seehofer (CSU) aus den Neunzigerjahren. Die Zahl der Fachärzte pro Region ist begrenzt. Wer neu anfangen will, muss in bestehende Praxen einsteigen oder sie übernehmen. Solange die Ärzteversorgung einer Region nach den Zahlen der KV in Ordnung ist, dürfen keine neuen Arztsitze entstehen - und das ist sie für den Kreis Schleswig-Flensburg. Auch wenn die Wartezeiten bei den Fachärzten lang sind. Auch wenn Sandra Sengupta und Uwe Fischer sich an den Grenzen ihrer Belastbarkeit sehen.

Ist es also schlecht, ein Landarzt zu sein? Mit dieser Botschaft würden Sandra Sengupta und Uwe Fischer ungern rausgehen aus dem Gespräch. Viele Patienten sind dankbar. Die Landschaft entschädigt für vieles. "Man kann an den Strand gehen. Man kann mit dem Motorrad von der Ostsee an die Nordsee fahren. Man hat das Wasser vor der Tür." Uwe Fischer lächelt. Sandra Sengupta findet auch, dass die Rahmenbedingungen nicht von der Schönheit des Landlebens ablenken sollten. Sie wohnt mit ihrem Lebensgefährten auf einem großen Bauernhof im Grünen. Jeden Morgen um fünf geht sie mit dem Hund raus. Und ihre Arbeit empfindet sie hier anders als im Krankenhaus, unmittelbarer, nachhaltiger. Sie mag diese Mischung aus Schulmedizin und Gefühl für die richtige Ansprache. "Man lernt mehr über Krankheit und Gesundheit. Über Menschen. Was Zwang und Druck auslösen können. Ob ich einen 84-jährigen Bauern vor mir habe oder einen 40-jährigen Studienrat - das ist immer spannend. Und die Leute merken, dass man sich für sie interessiert."

Sandra Sengupta sagt: "Ich bin eigentlich überwiegend gut gelaunt." Fast so wie der Fernseh-Landarzt.

© SZ vom 18.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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