Krieg:Angekommen

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Seit einem Jahr erzählen Kinder und Jugendliche an dieser Stelle von ihrer Flucht. Wie geht es ihnen heute?

Von Kathrin Schwarze-Reiter

(Foto: privat)

Wenn man schon mal um sein Leben laufen musste, fühlt sich Wandern komisch an. Einfach so rumlaufen? Zum Vergnügen? "Das war seltsam", sagt Reza, "aber irgendwie auch schön." Wenn er davon erzählt, kommt schnell die Rede auf das Märchenschloss. Gemeint ist Schloss Neuschwanstein, das er vor Kurzem mit ein paar anderen Jugendlichen und Betreuenden besucht hat. Sie sind hochgestapft auf den Berg, haben über die Aussicht gestaunt, Gipfel gezählt und sich das Königsleben ausgemalt. Einer dieser Momente war das, in denen Reza kaum fassen konnte, wie sehr sich sein Leben verändert hat.

Vor weniger als einem Jahr ist er aus Afghanistan aufgebrochen. Mit seinen Eltern und Geschwistern hat er in der Nähe von Ghazni in einem kleinen Dorf gelebt, 140 Kilometer südlich von Kabul. Es ist schön dort mit den zerklüfteten, kargen Bergen rundherum. Aber es ist auch ein Ort ohne Zukunft: Die Ernten sind schlecht, die Menschen hungern, es gibt oft Überschwemmungen und Talibankämpfer, die die Menschen schikanieren. Deshalb ist Reza geflohen: Über Iran hat er sich alleine bis an die türkische Grenze durchgeschlagen, wo er sich monatelang im Wald versteckt hat. "Die Polizei dort ist sehr hart. Wenn die einen findet, schicken sie einen sofort zurück. Manche sagen Pushbacks dazu." In dieser Zeit hat er alles verloren, was er bei sich hatte: den Geldbeutel, auf den seine Mutter seinen Namen gestickt hatte, die traditionelle Tracht für Männer, seine Papiere, sein Handy, manchmal den Mut.

Reza in seinem Zimmer in der aktuellen Unterkunft. Der Raum ist karg, aber nach der Flucht ist er ist froh über die Ruhe und ein sauberes Bett. (Foto: privat)

Deshalb konnte er auch nur seine leeren Hände zeigen, als er in der Rubrik "Mitgenommen" hier auf den Kinderseiten von seiner Flucht erzählte. Reza hat sechs Länder durchquert und Tausende Kilometer zurückgelegt, bis er letztes Jahr im September in München ankam. Doch die erste Erleichterung schlug schnell um: Ein Mitarbeiter des Jugendamtes schätzte sein Alter auf 19, obwohl er damals erst 15 war. "Weil ich ziemlich große Hände von der Feldarbeit habe", vermutet Reza.

Der Elefant war ein Willkommensgeschenk, sitzt nun auf Rezas Schreibtisch und wacht darüber, dass es mit dem Deutschlernen klappt. (Foto: N/A)

"Uns scheint, dass solche Fehler öfter passieren", sagt Paul Huf vom Verein The Long Run, der geflüchtete Jugendliche rechtlich unterstützt. Es sind Beamte und keine Mediziner, die bei der Ankunft das Alter schätzen. Viele Kinder und Jugendliche wirken durch die anstrengende Flucht oder frühe harte Arbeit älter als die Kinder in Deutschland.

Er findet besonders schwierig, dass die Einspruchsfrist in solchen Fällen nur sechs Wochen beträgt.

Die Folgen sind bitter: Reza etwa durfte nicht zur Schule gehen, wurde wie ein Erwachsener behandelt und in eine Unterkunft mit lauter erwachsenen Männern gebracht. Eine Leserin fand das so unfair, dass sie Reza geholfen hat. Sie spendete Geld, mit dem eine Anwältin seine Tazkira beschaffen konnte - das ist eine Art Geburtsurkunde. Damit konnte Reza sein wahres Alter beweisen. Eine medizinische Untersuchung hat das mittlerweile bestätigt. Das hat viel verändert: Reza lebt nun in einer Unterkunft mit 15 anderen Jugendlichen. Er hat ein eigenes Zimmer, Ruhe, ein sauberes Bett, warme Kleidung und ein neues Lieblingsgericht: "Frikadellentage sind meine Lieblingstage." Reza war schon im Stadion des FC Bayern ("Ich saß auf der Spielerbank!"), baut Vogelhäuschen in einer Holzwerkstatt und macht immer wieder Ausflüge. Endlich kann er Deutsch lernen. Mit einem ebenfalls gespendeten gebrauchten Computer übt er jeden Tag neue Wörter und Sätze. Ein anderer Leser hat ihm einen Schulranzen besorgt.

Das Young Refugee Center am Münchner Hauptbahnhof. (Foto: N/A)

Reza ist nicht der Einzige, der Hilfe von Leserinnen und Lesern bekommen hat. Enajat, 15, wurden Winterkleidung, ein Schal, eine Mütze, Geld und ein Handy gespendet, mit dem er sich bei seiner Familie melden kann. Lev, 9, und Nazar, 12, aus der Ukraine haben über Leserkontakte ein Basketballteam gefunden. Denis, 18, aus Kiew hatte bei "Mitgenommen" von seinem großen Wunsch erzählt, seine Schwester in Spanien zu besuchen. Ein Ehepaar bot an, das Ticket dafür zu kaufen. Das war dann allerdings gar nicht mehr nötig, weil die Schwester in der Zwischenzeit zu Denis nach Berlin gezogen ist. Den Ticketpreis haben die beiden trotzdem gespendet . Weil Khalida, 16, aus Kabul in Afghanistan am besten Deutsch spricht, ist sie es, die große Teile des Familienlebens organisiert. Den Drucker, der ihr dafür immer wieder gefehlt hat, kaufte ihr eine Familie aus Berlin. Jackson, 4, musste seinen riesigen Stoffschimpansen in der Ukraine zurücklassen, gleich mehrere Leser haben Ersatz besorgt. Und die Geschwister Makar, 4, und Kyril, 8, haben über den Artikel eine Wohnung gefunden, genauso wie Milana, 13, aus Kiew.

Auf der Spielerbank: Der Ausflug ins Stadion des FC Bayern hat Reza besonders viel Freude bereitet. (Foto: Reza)

Reza freut sich, als er von all den Geschichten hört. "Die Menschen in Deutschland sind so freundlich." Manches bleibt trotzdem schwierig. Nachts, sagt Reza, träumt er immer wieder von seiner Familie und davon, sie fest zu umarmen. Ab und zu kann er mit ihnen schreiben, ganz selten telefonieren. Es ist schwierig, weil es in seinem Heimatdorf kein Internet und keinen Handyempfang gibt. Seiner Mutter geht es nicht gut, sie wird immer wieder ohnmächtig. Niemand weiß, warum. "Ich mache mir viele Sorgen um sie." Reza hofft, dass er bald eine Ausbildung machen kann, um den Menschen in Deutschland mit seinen großen Händen zu helfen - und irgendwann vielleicht auch seinen Eltern daheim.

© SZ vom 25.03.2023 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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