Kolumne: Vor Gericht:Gemeine Ratten

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1552 wurden im Burgund Ratten angeklagt, die Gerstenvorräte aufgefressen hatten. Komischerweise erschienen sie aber nicht vor Gericht. (Foto: xWirestockx/IMAGO/Pond5 Images)

Aufgefressene Weinberge oder Getreidevorräte: Auch Tiere standen früher vor Gericht. In Ausnahmefällen kommt das sogar noch heute vor.

Von Ronen Steinke

Im Frühling 1457 beunruhigte ein furchtbares Verbrechen die Bewohner des französischen Dorfes Savigny-sur-Étang. Man hatte die Leiche eines fünfjährigen Jungen gefunden, der offenbar gewaltsam getötet und teils auch schon aufgefressen worden war. Zeugen berichteten, dass sie eine Vermutung hätten. Als Hauptverdächtige wurden eine Mutter und deren sechs Kinder ausgemacht. Es waren Schweine. Die Beweislage war erdrückend. Blutspuren klebten noch an ihnen. Also wurden sie einem Gericht vorgeführt.

Zeitgenössischen Berichten zufolge, die die belgische Philosophin Vinciane Despret für ihr fabelhaftes Buch "Was würden Tiere sagen, würden wir die richtigen Fragen stellen?" ausgewertet hat, wurde den Beschuldigten ein Pflichtverteidiger beigeordnet. Aber trotz des sehr engagierten Plädoyers dieses Anwalts führte an der vorgeschriebenen Strafe letztlich kein Weg vorbei. Die Mutter wurde zum Tod durch den Strang verurteilt. Die sechs Kinder kamen unter Verweis auf ihre fehlende Strafmündigkeit davon. Sie gingen in die Obhut des Staates über.

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Dass Tiere vor Gericht stehen, ist heute selten geworden. Das war mal anders. In der frühen Neuzeit wurden Menschen und Tiere noch oft gemeinsam als Mitverschwörer angeklagt. Als 1597 im savoyischen Dorf Saint-Julien Rüsselkäfer angeklagt wurden, weil sie - mutmaßlich - die örtlichen Weinberge abgefressen hatten, da berief sich ihr Anwalt, der sie auf Kosten der Allgemeinheit vertrat, auf ihr gottgegebenes Recht, sich von Gräsern, Blättern und Kräutern zu ernähren. Mit Erfolg. So stehe es schließlich in der Bibel.

In Deutschland gibt es noch heute durchaus Situationen, in denen gegen Tiere die Todesstrafe verhängt wird. Man nennt das natürlich nicht mehr so. Als ein Rottweiler in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2015 ein damals zweijähriges Mädchen angriff und lebensgefährlich verletzte, ordnete die Stadt an, ihn sofort "sicherzustellen", also einzusperren, und dann rasch durch die Amtstierärztin einschläfern zu lassen. Nach dem Landeshundegesetz. Die Richter bis hinauf zum Oberverwaltungsgericht lehnten alle Gnadengesuche der Hundehalterin ab. Der Hund sei nicht therapierbar. Lebenslange Einzelhaft in einem Zwinger gehe auch nicht, "aus Gründen des Tierschutzes".

Immerhin, früher hatten die tierischen Beschuldigten bessere Chancen, auch mal davonzukommen. Als 1522 die Stadt Autun im Burgund von Ratten heimgesucht wurde, die die Gerstenvorräte aufgefressen und sich anschließend in die umliegenden Felder zurückgezogen hatten, da forderte der Gerichtsdiener sie auf, vor Gericht zu erscheinen. Die störrischen Ratten ignorierten dies. Ihr Anwalt - ein Jurist namens Barthélemy de Chasseneuz, der später Oberrichter und ein bedeutender Rechtstheoretiker werden sollte - erschien allein vor Gericht. Der Richter weigerte sich dann, sie in Abwesenheit zu verurteilen.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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