Italien:Spätherbst in den Hügeln

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Die Toskana war Sehnsuchtsort für deutsche Geistesmenschen. Als Siedler in einer der schönsten Landschaften der Welt wollten sie zu sich selbst finden. Nun sind sie alt und die Häuser brüchig. Ein Besuch.

Von Thomas Steinfeld

Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir", heißt es in Robert Gernhardts Roman "Ich Ich Ich" aus dem Jahr 1983. "Hier an diesen Tisch, auf diesen Stuhl, unter dieser Pergola, mit Blick in dieses Tal. Schön, dieser Blick, nicht wahr?" Auf die Einladung folgt ein mehrere Seiten langer Monolog, in dem es unter anderem um den Blick hinauf zu der Bergkette geht, die das Chianti zum Arnotal hin abschließt, um die Badia a Coltibuono, eine romanische Abtei am Berghang, um die Wahl der besten Lasagne und des dazugehörigen Rotweins, um die Mauersegler - und um die Putenfarm auf dem gegenüberliegenden Hügel.

Robert Gernhardt musste diese Aussicht nicht erfinden. Es genügte, wenn er von der Terrasse seines Wohnsitzes im Osten der Toskana seinen Blick über die Landschaft schweifen ließ. Anfang vierzig war er, als er dieses Buch schrieb. In den frühen Siebzigern war er Mitbesitzer eines alten Bauernhauses im Valdarno geworden. Es begleitete ihn bis zu seinem Tod im Sommer 2006. Und wer "Toscana mia" (2011) liest, den aus dem Nachlass herausgegebenen Band seiner privaten Aufzeichnungen aus vielen langen Aufenthalten in Italien, der weiß, dass er nicht nur Besitzer jenes Hauses war, dessen Aussicht er in Dutzenden von Gedichten und Bildern festhielt. Das Haus besaß auch ihn.

Der Tisch, der Stuhl, die Pergola, es ist alles noch am Platz. Der Blick ist noch der derselbe. Doch die Stimmung ist eine andere. "Da unten hat ein Romanistikprofessor aus München gewohnt, aber er hat an einen Florentiner verkauft, aber dort, hinter dem Hügel, wohnt noch immer der Frankfurter Fotograf", sagt Almut Gernhardt, die Witwe des Dichters. Soweit ist alles noch fast in Ordnung. Doch von den Alten aus dem Dorf sind die freundlichsten verschwunden, die Nebenerwerbsbauern, vitale Greise, die Liliano oder Olga hießen und nach dem Haus schauten, wenn die Besitzer in Deutschland waren, und im November bei der Olivenernte halfen. Sie glichen den Bäumen, an denen sie arbeiteten, so krumm und runzlig, wie sie waren, und auch so beständig und vital. Ihre Kinder und Enkel indessen wollen nicht mehr bei fremden Ernten helfen, sie haben andere Berufe. Drüben, am Pratomagno, auf der anderen Seite des Arno, sollen die Olivenhaine gar verwildern.

Und dann, allmählich, hört man Geschichten von deutschen Siedlern, die sich nach langem Zögern entschlossen haben, ihr Haus, weil unverkäuflich, in Ferienwohnungen zu verwandeln.

Es ist schwierig zu sagen, wie viele Deutsche tatsächlich in der Toskana leben. Sie bilden keine Cliquen. Ein jeder herrscht über ein kleines Königreich, allein. Von der Bevölkerungsstatistik erfasst werden nur die "residenti", die mit erstem Wohnsitz gemeldeten Ausländer: Nur gut tausend sind es etwa in der Provinz Florenz. Im Unterschied zu den gelegentlichen Siedlern mit ihren glänzenden Kombis fahren sie meistens alte, geländegängige Autos mit italienischen Kennzeichen. Wer wissen will, wie viele Landhäuser in dieser Gegend den "Fremden" gehören, also nur befristet genutzt werden, muss sich umhören. Ein Drittel von einigen Zehntausend, sagen die Vorsichtigen, die sich womöglich in den entlegeneren Gebieten um Arezzo gut auskennen. Mindestens die Hälfte, sagen andere. Sie kennen vielleicht die Nachbarschaft bei Siena oder Montepulciano, wo die Dörfer so glatt herausgeputzt sind, als wären sie Freilichtmuseen.

Die Villa als Lebensentwurf: toskanische Landschaft in der Nähe von Florenz. (Foto: Ferdinando Scianna/Magnum Photos)

Meistens handelt es sich um ein aus roh behauenen Steinen gefügtes Haus unter einem großen, roten Dach. Innen riecht es ein wenig bitter, nach Staub und Ruß. Der Geruch kommt aus dem offenen Kamin. Je mehr das Haus in seinem ursprünglichen Zustand belassen ist, desto kleiner sind die Fenster, desto dunkler sind die Räume und desto feuchter wird es in der kalten Jahreszeit, ein Umstand, an dem auch die alte Ölheizung nichts ändert. "Die alten Häuser hier sind die direkt in den Erdgrund gesetzt, oder in den Fels", sagt ein Makler im Valdarno, "ohne Isolierung. Man muss dann schon investieren." Er denkt an eine neue Drainage, an eine Fußbodenheizung, an eine Galerie von Sonnenkollektoren. Alt und einsam thront ein solches Haus in der Landschaft, gerne auf einem Hügel. Denn es ist nicht nur eine Heimstatt, sondern auch eine Festung, von deren Höhe ein Souverän fachmännisch auf die Ländereien blickt, die er gern für seine Latifundien hielte, auch wenn es nicht seine sind. Nur die Zypressen ragen noch weiter hinauf.

Ein "Generationenwechsel" stehe an, sagt ein Kollege des Maklers im Chianti. Er meint vor allem die Deutschen, die früher bis zu zwei Drittel seiner Klientel ausmachten. Was er sagt, ist insofern richtig, als in den späten Sechziger-, frühen Siebzigerjahren eine Kolonisierung der Toskana begann, deren Träger Deutsche aus mehr oder minder intellektuellen Berufen waren: Künstler, Politiker und Ärzte, Grafiker und Lehrer, Professoren und Publizisten. Als sie die Häuser erwarben, waren sie im selben Alter, das Robert Gernhardt hatte, als er sich am Kauf eines Rusticos bei Cavriglia beteiligte, worauf er dann ein Theaterstück schrieb, das er "Die Toscana-Therapie" (1986) nannte. Alle diese Menschen sind nun, sofern sie noch leben, mindestens siebzig Jahre alt - und damit etwa im selben Alter wie die italienischen Helfer, die auf steilen Terrassen dafür sorgen, dass es auch in diesem Jahr noch eine Olivenernte gibt. Ein guter Hausarzt ist für viele Siedler jetzt wichtiger als der Blick in die Hügel.

Das Wort vom "Generationenwechsel" ist aber zugleich falsch. Zunächst deshalb, weil es suggeriert, dass in dieser Landschaft auch bei den Gelegenheitsbürgern eine Generation auf die andere folge. Das mag zuweilen so sein, bei manchen Briten zum Beispiel, deren Familien sich schon im späten neunzehnten Jahrhundert vor allem in der Gegend um Florenz niederließen. Die deutschen Siedler aber, die um das Jahr 1970 kamen, waren Pioniere, und sie wagten sich in neue Gegenden vor. Ihnen gilt sogar eine eigene Mythologie, in deren Mitte Willy Fleckhaus steht, der Grafiker, der die Umschläge der Edition Suhrkamp und vor allem der Zeitschrift Twen (1959 bis 1971) geschaffen hatte. In letzterer erschien im Jahr 1969 eine reich bebilderte Reportage, in der Willy Fleckhaus und der Redakteur Helmut Bibow von den großartigen alten Häusern in der Toskana erzählten, die für einen Spottpreis von wenigen zehntausend Mark zu erwerben seien, Olivenhain inklusive.

Willy Fleckhaus sei es gewesen, sagt eine deutsche Hausbesitzerin, der den Rundbogen so beliebt gemacht habe. Dieser fand dann aus den restaurierten toskanischen Bauernhäusern der Siebzigerjahre den Weg in deutsche Pizzerien. Fleckhaus starb 1983 in Castelfranco di Sopra. Sein großes, von elf Hektar Land umgebenes Haus ist prächtig renoviert und wird an Touristen vermietet. Die Pioniere begründeten keine Dynastien - ihre Kinder (und Enkel) benötigen ihren Urlaub zu anderen Zwecken als zur vermeintlichen Wiederherstellung einer verlorenen Welt.

Falsch ist das Wort vom "Generationenwechsel" außerdem, weil es die vielen ausländischen Bewohner der Toskana nur als Besitzer von Feriendomizilen behandelt. Tatsächlich mögen sie solche sein. Aber sie begreifen sich nicht als Urlauber, und sie haben sich nie als solche verstanden. Sie sind Siedler, in einem verdrehten Sinn des Wortes: Denn sie unterwarfen nicht das Land, in das sie kamen, vielmehr unterwarfen sie sich selber - einer bäuerlichen Bautradition etwa, in der mit einem offenen Kamin geheizt wurde. Einer altertümlichen Landwirtschaft, die mit Maschinen nicht zu bewältigen ist. Einer dörflichen Sozialordnung, über deren hierarchischen Charakter man besser nicht allzu gründlich nachdenkt. Das Bedürfnis, das zu bewahren, was an "gewachsenen Strukturen" erhaltenswert sei, also in einem strengen Sinn "schonend" zu leben, war stärker als jeder Gedanke an Erholung.

"Gehet hin in alle Welt und rettet die Bruchsteinmauern", spottete Robert Gernhardt über diese Leidenschaft, die er selbst teilte. Doch in demselben Maße, wie sich die Häuser der Pioniere in Feriendomizile verwandeln, verändert sich nun die Landschaft. Wenn die alten Helfer nicht mehr da sind, verfallen zum Beispiel die Terrassen, auf denen jetzt noch Oliven in Handarbeit geerntet werden.

Der Olivenhain ist das sichtbarste Zeichen dieser Veränderung. Wenn im November geerntet wird, gehen große Trupps durch die professionell bewirtschafteten Plantagen. Sie arbeiten mit Maschinen und bestehen meist aus Albanern, Rumänen, manchmal auch aus Flüchtlingen, die auf ihrer Wanderung in Italien hängengeblieben sind. Das alles ist viel zu teuer für einen Hain von fünfzig oder hundert Bäumen. Dort brauchen zwei Arbeiter mindestens eine halbe Stunde für einen Baum, aus dessen Früchten dann ein Liter Öl gepresst werden kann. Zahlt man ihnen den offiziellen Mindestlohn, kostet diese Arbeit zwölf bis fünfzehn Euro, Versicherung inklusive. Danach müssen die Oliven in die Mühle, was noch einmal ein bis zwei Euro pro Liter kostet. Hinzu kommen die Kosten für das Beschneiden der Bäume, für das Mähen der Wiesen, für die Instandhaltung der Wege und Mauern - Bruchsteinmauern! Die Gestehungskosten für einen Liter feinen, jungfräulich gepressten Öls liegen bei zwanzig bis fünfundzwanzig Euro, und dann war es eine gute Ernte.

Es ist wunderbar, über das silbrige Grün der Oliven zu blicken, wie sie sich in Terrassen die Hänge hinaufziehen, und man kann sich tagelang damit beschäftigen, den Hügeln zuzusehen, wie sie sich in wechselndem Tageslicht verändern, von wild zu sanft, von grau nach blau. Solange die Sonne scheint und die Temperaturen mild sind, liegt hier immer noch eine der herrlichsten Landschaften der Welt. Aber jeder halbwegs historische Meter darin ist ein mäzenatischer Akt, zu dem der Besitzer oft über seinen Tod hinaus verpflichtet wird, dergestalt nämlich, dass die Erben vor der Entscheidung stehen, ob denn etwas verfallen dürfe, in das so viel Kraft, Geist und Geld investiert worden sei.

Es gibt Siedler, die aus solchen Schwierigkeiten den Schluss ziehen, nicht mehr Amateure von Haus und Landschaft sein zu wollen. Dann schaffen sie eine Stiftung, so wie die Witwe des Schriftstellers Gregor von Rezzori, die aus dem Haus in Donnini bei Florenz eine vorübergehende Heimstatt für Autoren oder andere Künstler machte. Manche Siedler werden Herbergseltern, was selten ist, oder Weinbauern, was häufiger vorkommt. Zu letzteren gehört Bettina Rogosky, die Witwe des Werbers, der einst die Kampagne für einen Likör erfunden hatte - "ich trinke Jägermeister, weil . . ." In der Gegend von Mercatale stellt sie einen Wein her, der so erfolgreich ist, dass es das Gut wohl auch noch in zwanzig oder dreißig Jahren geben wird. Ohne eine solche ökonomische Grundlage aber verwandeln sich die Landhäuser der Toskana in gespenstische Projekte.

Aus einem Haus hört man, der Besitzer habe sich einen Wirbel gebrochen und werde bis auf Weiteres nicht zurückkehren. Aus einem anderen wird berichtet, die kinderlos gebliebene Besitzerin überlege, ihr Anwesen einer wohltätigen Organisation zu überschreiben, aus einem dritten, die Erben hätten versucht, es zu einem Drittel des ursprünglich veranschlagten Preises zu verkaufen. Aber es habe sich kein Interessent gemeldet. Es ist schwierig, mit den alt gewordenen Siedlern über diese Dinge zu reden. Denn jedes Mal ist es, als werde ein Urteil über ein Leben gesprochen.

Den Immobilienmakler aus der Gegend ficht solcher Kummer nicht an. "Die Gelegenheit ist günstig", sagt er, denn die Preise seien seit dem Jahr 2008, dem Beginn der jüngsten Krise in Italien, um dreißig Prozent oder mehr zurückgegangen. In den jüngsten Erhebungen heißt es jedenfalls, es würden im ganzen Land wieder mehr Zweitwohnungen an Ausländer verkauft - etwa 5000, davon knapp die Hälfte an Deutsche. Es gebe eine Klientel, sagt der Makler, die genug Geld habe und es günstig unterbringen wolle. Mit dem Traum von der Selbstrettung durch ein Haus in der Toskana haben solche Überlegungen indessen kaum noch etwas zu tun. Denn Feriendomizile sind Produkte einer industrialisierten Gesellschaft und darin vergleichbar mit dem Weinbau auf großen Flächen, wie er etwa um das Castello di Brolio herum betrieben wird, oder den Fabrikhallen im Tal des Arno. Das mühsam konservierte Rustico aber hätte der Sprung in eine andere, arkadische Zeit sein sollen.

Dass es in Gaiole einen Metzger gebe, der unnachahmliche Leberbällchen herstelle, war einmal eine wichtige Nachricht. Dass Antonios Mutter in einer Trattoria in der Nähe ihre Tortelloni selber zubereite, "tutti fatti in casa", war es nicht minder. Die Verweise auf die sozialistischen Traditionen im Gemeinderat von Cavriglia, auf das angebliche Lieblingslokal von Otto Schily (oder war es Joschka Fischer?) in Siena, auf die Feinheiten des Konjunktivs im Italienischen gehörten auch dazu. Das Expertentum, das die Expatriierten auf Zeit begleitete, war eine ebenso demütigende wie flüchtige Sache. Sie verschwand, als die Unerreichbarkeit des Ziels, wenigstens Italiener, wenn nicht ein idealer Mensch zu werden, allzu offenbar wurde.

Und doch hat es etwas Bedenkliches, an einem Herbstabend in der Toskana zu sitzen, und keiner sagt diesen Satz: "Nein, seitdem Massimo, der dicke Koch, nicht mehr da ist, lohnt sich das alles nicht mehr." Fast wäre man bereit, die Besserwisserei zu vermissen: Denn verbarg sich nicht auch ein großer Wille zur Selbsterziehung darin, ein pädagogisches Programm, das, wenn es denn aufgegangen wäre, alles überstrahlt hätte, was Schule und Universität gelehrt hatten? War diese Toskana-Begeisterung nicht auch rührend?

© SZ vom 05.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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