Historie:Löwen und Geier

Lesezeit: 7 min

Eine viel diskutierte Friedensidee für Syrien: Diktator Assad soll weg, das Regime darf bleiben. Klingt gut, aber wie soll das gehen? Die Familie Assad hält das Land seit Jahrzehnten im Würgegriff.

Von Ronen Steinke

Der Tag bricht gerade an, als der 31 Jahre alte Basil al-Assad in den Straßen von Damaskus das Gaspedal seines Mercedes bis zum Anschlag durchdrückt. Er rast zum Flughafen. Ziel ist ein Flieger nach Deutschland. Termine. Es kracht und kreischt, Metall schrammt auf Asphalt, als er in einer Kurve die Kontrolle über den Wagen verliert, gegen einen Betonblock knallt und sich mehrfach überschlägt. Als es still wird, ist der Fallschirmjäger, der seit Kindstagen darauf vorbereitet worden ist, das Amt des Präsidenten von seinem Vater zu erben, bereits tot.

So ändert sich der Lauf von Syriens Geschichte. Es ist der 21. Januar 1994. Was nun geschieht, kennt man aus Königshäusern. Der zweitgeborene Sohn rückt in der Thronfolge auf. Dies ist Baschar al-Assad. Auf ihn läuft von nun an die Macht zu, von der er selbst und viele andere später sagen werden, er habe sie nicht gewollt.

Der 28-Jährige ist ein Schlaks mit fliehendem Kinn und einer Neigung zu nervösem Lachen, "er hatte einen kleinen Komplex", erzählt später der ehemalige Berater Aiman Abdelnur, der ihn während des Studiums kennenlernte, "denn ihm fehlte das Charisma" von Basil, "der sportlich war und den die Mädchen mochten". Der jüngere Bruder hat seine Jugend im Schatten des älteren zugebracht. Von der Politik hat er sich ferngehalten, zum Studieren hat er sich nach London fortgemacht, in die relative Anonymität, und dort lernt er eine elegante 18-Jährige kennen, die in England aufgewachsen ist, zugleich aber einer schwerreichen syrischen Bankiersfamilie angehört. Eine Prinzessin des Geldadels. Die beiden sind ein Paar, eine arrangierte Beziehung zweifellos, ein Schachzug von Baschar al-Assads Familie. Aber einer, mit dem er gut leben kann. Nun nimmt sein Leben eine plötzliche Wendung, der Clan pfeift ihn aus London zurück, der Adel verpflichtet.

Die Führung des Staates ist in Syrien eine Familienangelegenheit. Das gilt unter den Assads noch mehr als im Irak unter Saddam Hussein oder in Libyen unter Muammar al-Gaddafi. Zudem haben die Assads treue Gefolgsleute unter den Alawiten, zu denen in Syrien etwa zehn Prozent der Bevölkerung gehören. Familienpatriarch Hafis al-Assad hat sich freilich stets davor gehütet, seine Herkunft zu betonen. Er behauptete stets, der syrische Staat sei für alle religiösen Richtungen gleichermaßen da.

Gewiss, das Assad-Regime ist undurchsichtig. Kaum jemand will heute, nach mehr als vier Jahren des außerordentlich skrupellos geführten Bürgerkriegs, Wetten darauf abschließen, wie tief Präsident Baschar al-Assad persönlich in die Befehlsketten einwirkt und welche Entscheidungen er anderen überlässt. Wichtige Schaltstellen aber, so viel ist klar, sind mit Verwandten besetzt, mit dem Bruder, mit Cousins und Neffen, und so ist die Macht auf dieser höchsten Ebene stets auch wie in Shakespeares "Hamlet" verquickt mit familiären Bindungen, Abhängigkeiten, Animositäten. Ohne sie ist nicht zu verstehen, wie aus dem linkischen Studenten von damals der Herrscher wurde, der er heute ist.

Und ohne den Blick auf die Familienbande ist auch nicht der Frage beizukommen, die internationalen Friedensvermittlern in diesen Tagen Kopfzerbrechen bereitet. Ihnen schwebt eine Kompromisslösung zwischen den verfeindeten Lagern in Syriens Bürgerkrieg vor: Assad soll weg, der Rest des Regimes darf bleiben. Aber lässt sich der weitverzweigte Clan überhaupt noch vom Regime trennen?

Baschar al-Assad ist viel abhängiger vom Familiennetzwerk, als es sein Vater je war. Er besitzt, als er 1994 plötzlich Thronfolger wird, keine Hausmacht im syrischen Machtapparat, der auf der gegenseitigen Kontrolle fünf konkurrierender "Hauptgeheimdienste" und des Militärs ruht. Neigung zu Strategischem ist ihm nicht gegeben, was schon durch seine Berufswahl sichtbar ist: Medizin, nicht Militär wie seine Brüder. In London hat er Augenheilkunde studiert. In Damaskus muss er nun eilig eine Militärkarriere nachholen, wobei er als Thronfolger derart schnell die Karrieresprossen hinaufgeschoben wird - nach nur fünf Jahren ist er schon Oberst -, dass es sein Ansehen unter den Offizieren nicht fördert. Erfahrung in militärischen Dingen hat er bis dahin fast keine, dafür aber "einen ausgeprägten Sprachfehler", wie es der Historiker Daniel Gerlach in seinem im März erschienenen Buch "Herrschaft über Syrien" formuliert: ein Lispeln nämlich, "dessen Wirkung auf einem Exerzierplatz man sich lieber nicht ausmalen möchte". Er hat keine eigenen Zuträger von Informationen, keine Seilschaften in der Armee. Was er hat, ist Familie.

Propagandaplakat für Baschar al-Assad an einem vom Bürgerkrieg zerstörten Gebäude in Homs. (Foto: Sergey Ponomarev/The New York Times)

Präsidentenvater Hafis al-Assad "hatte sein Regime wie ein Tuch gewoben", zitiert die Financial-Times-Journalistin Roula Khalaf einen Insider des Regimes. "Als der Zeitpunkt gekommen war, musste Baschar nur eingeflochten werden."

Der Gründer der Assad-Dynastie, Hafis, kommt aus einfachsten Verhältnissen. 1970 gelangt er durch einen Putsch selbst an die Staatsspitze, wo er drei Jahrzehnte lang die nötige Brutalität aufbringt, um zu bleiben. Die Familie Assad hieß bis 1927 noch nicht Assad, sondern Sulayman. Ein Vorfahr mit politischen Ambitionen hat den Namen ändern lassen. Assad bedeutet Löwe.

Bis heute setzt Baschar al-Assad darauf, dass ihn die meisten gegenüber seinem Bruder für das kleinere Übel halten

Als Präsident besetzt Hafis al-Assad Schlüsselpositionen mit Familienmitgliedern, und als Patriarch verwendet er viel Mühe darauf, die First Family öffentlich zu inszenieren. Mit seinem jüngeren Bruder Rifaat praktiziert er eine klare Rollenverteilung, wie der Buchautor Gerlach analysiert: hier der weise Staatschef, dort der angeblich weitaus brutalere kleine Bruder, "vor dessen Thronfolge, so die landläufige Meinung, Gott uns schützen möge". Eine ähnliche Rollenverteilung, so Gerlach, "finden wir im Dramatis Personae des syrischen Regimes heute: hier der volksnahe, gemäßigte Baschar, dort sein düsterer, jähzorniger Bruder Mahir al-Assad."

Hier der Gemäßigte: Als Baschar im Jahr 2000 den Vater beerbt, mit nur 34 Jahren, da lässt er sich zunächst als moderater Herrscher in Szene setzen, er zeigt sich mit seiner damals 25-jährigen Frau Asma fast ohne Leibwächter, sie besuchen Restaurants und Galerien, sie wirken als Gegenentwurf zu den verknöcherten Potentaten der arabischen Welt. Es geht sogar das Wort vom "Damaszener Frühling" um.

Im Hintergrund beginnt Baschar, alte Generäle und Beamte seines Vaters auszuwechseln - gegen noch mehr Verwandte, wie der amerikanische Geschichtsprofessor und Assad-Biograf David Lesch ("The New Lion of Damascus", 2012) beschreibt. Vor allem seinem jüngeren Bruder gibt er Ämter. Mahir al-Assad, der zwei Jahre jünger ist als Baschar, übernimmt die Präsidentenwache, eine Elitetruppe der Armee, sowie die 4. Division, die verschiedene Truppenteile beaufsichtigt. Mahir gilt als Sadist. 2008 filmt er sich mit einer Handy-Kamera. Das Video taucht bei Youtube auf: Mahir zwischen übel zugerichteten, herumliegenden Leichen. Er steht in der Thronfolge gleich hinter Baschar.

Wenn Mahir anstelle seines Bruders die Macht übernähme, so heißt es in Oppositionskreisen zu Beginn des Aufstands 2011 angstvoll, würde man zehn Mal so viele Tote zu beklagen haben, der britische Telegraph nennt ihn den meistgefürchteten Mann Syriens. "Niemand im Regime hatte es eilig, dies zu dementieren", merkt der Buchautor Gerlach an, "und Mahir spielte seine Rolle sehr diszipliniert." Das hilft der Herrschaft Baschars.

Zur zweiten Stütze in Baschar al-Assads Führungskreis wird sein Schwager, Assif Schaukat, der vom Alter her sein Vater sein könnte. Schaukat hat schon eine Karriere als brutaler Ausputzer des Präsidentenvaters Hafis hinter sich. Viele Jahre lang hat er dem Alten als Chef eines Geheimdienstes gedient. Er gilt als Mann für schmutzige Arbeiten, bullig und völlig ungeschliffen. Als die Assad-Schwester Buschra den Ausputzer als ihren Verlobten präsentiert, reagieren die Assad-Männer indigniert. Im Marmor-Glas-Palast der Familie fallen sogar Schüsse. Mahir schießt den Schwager 1999 im Streit an. Erst als im Jahr 2000 Baschar zum neuen Familienoberhaupt aufsteigt und Präsident wird, klärt er die Verhältnisse. Baschar erteilt der Verbindung seinen Segen - und gewinnt so einen Verbündeten.

Fortan räumt der Schwager dem jungen Präsidenten die Widersacher aus dem Weg, auch hinter dem tödlichen Anschlag auf Libanons prowestlichen Premier Rafik al-Hariri im Jahr 2005 soll er stecken. Vergolten wird es ihm mit einem Kabinettsposten. Assads Schwester Buschra, der Intelligenz und politische Ambitionen nachgesagt werden, ist zufrieden.

Buschra gilt allerdings als erbitterte Widersacherin der Präsidentenfrau Asma - sie neidet dieser ihren politischen Einfluss. Das Zerwürfnis machen Beobachter mit dafür verantwortlich, dass Baschar al-Assad von 2008 an wieder stärker auf Distanz zu seinem Schwager geht. Die First Lady spielt in diesem Staat nicht bloß eine repräsentative Rolle, sie leitet auch den "Syria Trust": eine Stiftung, mit der sie alle nicht-staatlichen Organisationen im Land kontrolliert und Hilfsgelder aus dem Ausland abfangen und in Bahnen lenken kann. Seit 2012 wissen die Syrer aus durchgestochenen E-Mails, mit welcher Begeisterung die Präsidentenfrau weiter teure Pariser Möbel bestellt: "Hiermit bestätige ich, die Farbe des console empilée ist PFLAUME."

Syriens Herrscherfamilie zu Beginn der 1990er-Jahre. Sitzend: das damalige Präsidentenpaar Anisa Machluf und Hafis al-Assad. Stehend (v.l.): Die Söhne Mahi, Baschar, Basil, Majid und die Schwester Buschra. (Foto: AFP)

Zöge man das alles nun ab - die gesamte Familie Assad einschließlich auch der vielen Neffen und Cousins wie Asif Nadschib, des Chefs der Sicherheitstruppen - was bliebe dann noch übrig vom Regime? Die Antwort: durchaus eine Menge. Baschar al-Assad hat zwar viele Verwandte in die Politik geholt. Mit den Jahren hat der dennoch viel familiäre Macht verspielt. Das hängt zum einen mit einer wirtschaftspolitischen Entscheidung zusammen. Baschar hat die Wirtschaft liberalisiert. So drängt es die Prinzlinge seines Clans weniger in Staatsposten, sie haben Alternativen in der Privatwirtschaft gefunden. Beispielhaft dafür steht Assads Cousin Rami Machluf, der die Lizenz für das lukrative Mobilfunkgeschäft bekam. Mit seinem Reichtum bezuschusst er zwar die Shabihah, die "Gespenster" des Regimes, zivil gekleidete Schlägertrupps. Aber er sichert sich daneben auch mit einer Privatmiliz ab, auf deren Loyalität Baschar nicht unbedingt zählen kann. So machen es auch andere Verwandte.

Spätestens seit Ausbruch des Bürgerkrieges hat Baschar sich zudem darangemacht, den Aufstieg von Familienmitgliedern aktiv zu bremsen. Er erkennt in ihnen potenzielle Rivalen, Alternativfiguren, welche kraft ihres Namens die Autorität hätten, einen eigenen Frieden hinter seinem Rücken auszuhandeln. 2012 tötete ein mysteriöses Bombenattentat Assads mächtigen Schwager Assif Schaukat, der in seinem Auftreten immer unabhängiger geworden war. Eine Warnung an andere?

Noch immer gibt es zwar keinen Teil der Armee oder der Geheimdienste, in dem nicht irgendein Mitglied der weitverzweigten Herrscherfamilie eine Rolle spielen würde, sagt der Syrien-Experte Daniel Gerlach. "Aber die Familie ist nicht das entscheidende Machtsystem."

Lange meinte Baschar al-Assad, davon zu profitieren, dass sein jüngerer Bruder Mahir ihn vergleichsweise gut und gemäßigt aussehen ließ. Je mehr das Regime aber militärisch geschwächt ist, desto mehr erscheint der skrupellose Mahir auch als Alternative zu Baschar. Immer wieder gibt es Berichte, dass die beiden ungleichen Assad-Brüder in Damaskus zu ihrer Mutter zitiert würden, zur inzwischen 81 Jahre alten Anisa Machluf. Manchen gilt die Frau, die seit Jahren in der Kulisse verschwunden ist, weiter als starke Kraft im Hintergrund, als Vermittlerin. Andere halten die Gerüchte um ihren großen Einfluss für ein Klischee. In Homs haben Regimeanhänger schon den Slogan verbreitet: "Baschar in die Augenklinik. Mahir an die Führung."

Als der Präsidentenvater Hafis einst in eine ähnliche Situation geriet mit seinem Bruder Rifaat, da verbannte er diesen ins Exil. Baschar kann sich derartiges heute nicht leisten.

© SZ vom 26.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: