Historie:Die wilden Kerlchen

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Sie waren nicht sehr groß, nicht besonders trinkfest und sie trugen auch keine Helme mit Hörnern. Wieso viele Mythen über die Wikinger nicht stimmen.

Von Thomas Hahn

Vom Meer her kam ein Sturm. Allerdings keiner, wie er sich sonst immer mal wieder zusammenbraute über der See vor der Insel Lindisfarne an der Nordostküste Englands. Schiffe legten an, finstere Männer eilten an Land. Sie fielen über das Kloster her, das sich seit seiner Gründung durch schottische Mönche im Jahr 635 einen Ruf als Wallfahrtsort erworben hatte. Die Plünderer gingen mit brutaler Rücksichtslosigkeit vor, zogen raubend und mordend durch die reiche Anlage.

Der Angriff dürfte auf die Menschen tatsächlich wie eine Naturgewalt gewirkt haben. "Feuerspeiende Drachen sah man durch die Luft fliegen", ist dazu in der Anglo-Saxon Chronicle zu lesen, und der Gelehrte Alkuin, ein Zeitzeuge und Berater Karls des Großen, schrieb an Higbald, den Bischof von Lindisfarne: "Als ich bei Euch war, gab mir Eure liebende Freundschaft eine große Freude. Jetzt, da ich fort bin, bringt mir Euer tragisches Leid jeden Tag Sorge, nachdem die Heiden Gottes Heiligtum entweiht, das Blut der Heiligen um den Altar vergossen, das Haus unserer Hoffnung in Schutt gelegt haben, und nachdem sie über die Körper der Heiligen getrampelt sind wie über den Mist in den Straßen."

Viele Wikinger waren Bauern, die vor einer elenden Existenz flohen

793 hat dieser fatale Angriff stattgefunden. Er gilt heute als Anfang des Wikinger-Zeitalters, auch wenn das nicht ganz korrekt ist, weil es vorher schon ähnliche tödliche Ereignisse gegeben hatte. Doch die Geschichtsschreibung braucht nun mal Anker in der Zeit, um sich an etwas festhalten zu können. Und dieser relativ gut belegte Überfall von Lindisfarne zeigt besonders anschaulich, welchen Terror die Wikinger einst unter der europäischen Bevölkerung verbreiteten. Vor allem dokumentiert die Attacke das gewalttätige Wüten der alten Seefahrer aus dem hohen Norden, deren Taten im Unterhaltungszeitalter gerne verklärt werden.

Die Wikinger sind kein Volk und keine Nation. Es ist gar nicht so einfach zu sagen, was genau sie sind. Im Grunde sind sie eher ein Phänomen als eine klar zu verortende Gruppe, und zwar eines, das längst über seine historische Bedeutung hinausgewachsen ist. Mit Wikingern verbinden Menschen aller Generationen heute ein Image: Stärke, Widerstandsfähigkeit, Abenteuerlust. Wikinger sind deshalb ein vitaler Bestandteil der Werbewirtschaft geworden. Sie schmücken Biermarken, Erkältungsmittel und Fernreisen, Comics und Kinderbücher spielen mit dem Klischee. Und Wikinger bereichern die Erlebniskultur: An diesem Wochenende finden in Schleswig, Schleswig-Holstein, die sogenannten Wikingertage statt, ein Ereignis mit Schau-Schwertkämpfen, Kunsthandwerk-Markt und einer Gastronomie unter dem Motto "Feiern wie die Wikinger".

Nüchtern betrachtet geht dieser ganze Wikinger-Hype allerdings auf einen Menschenschlag zurück, der zu seinen Hochzeiten viel Leid und Ungemach in die Welt brachte. Die Bezeichnung "Wikinger" hat sich erst im Laufe jener frühmittelalterlichen Epoche vom achten bis elften Jahrhundert herauskristallisiert, die Historiker heute "Wikingerzeit" nennen. Wahrscheinlich stammt sie von dem altnordischen Substantiv "víkingr", das so viel heißt wie "Seekrieger, der sich auf langer Fahrt von der Heimat entfernt". Denn genau das ist die Eigenschaft, welche die Wikinger seinerzeit von anderen Gruppen unterschied: Sie waren starke, organisierte Männer aus dem Norden, vor allem aus Skandinavien, die auf der Suche nach Gütern über die Meere setzten und dabei nicht zimperlich waren. "Wenn überhaupt eine derartige Definition gewagt werden kann", schreibt Rudolf Simek in seinem ausgewogenen Grundlagen-Büchlein "Die Wikinger", "dann die, dass alle Wikinger Bauern waren, die versuchten, einer prekären Subsistenzwirtschaft zu entfliehen - sei es durch Raub, Handel oder die Bewirtschaftung ertragreicheren Bodens."

Vor allem die frühen Berichte von ihren Plünderungen in Friesland, Frankreich, England und anderen Ländern zeigen die feindlichen Absichten der Wikinger. Erik "der Rote" Thorvaldsson, einer der Stars der Wikinger-Geschichte, 985 Gründer der ersten skandinavischen Siedlung in Grönland und unter anderem Namenspatron der norwegischen Bohrinsel Eirik Raude, war ein Mann von zweifelhaftem Temperament. Seine Seefahrten unternahm er unter anderem deshalb, weil er in Norwegen und Island wegen verschiedener Morde geächtet war. Und zu allem Überfluss tauchen Wikinger-Motive auch noch im Germanenkult von Rechtsradikalen auf. Wenn man all das bedenkt, kann man sich tatsächlich fragen: Warum sind die Wikinger heute so wohlgelitten in der Gesellschaft?

In Schleswig treten an diesem Wochenende bei den „Wikingertagen“ Kämpfer in authentischen Kostümen gegeneinander an. (Foto: © 2015 RS-Photography & Brand D)

"Das ist das Thema, mit dem ich mich schon seit vielen Jahren beschäftige", sagt Ute Drews, die Leiterin des Wikingermuseums Haithabu. Sie sitzt in ihrem Büro auf Schloss Gottorf in der hübschen Kreisstadt Schleswig, die sich stolz "Wikingerstadt" nennt, und wirkt auf ihre feinsinnige Weise amüsiert über den kleinen Wahnsinn, der seit Jahrzehnten rund um das Thema Wikinger wabert. Vor zehn Jahren schon hat sie zu einer Ausstellung einen Katalog herausgebracht mit dem Titel: "Unsinkbar! Das Wikingerschiff in Werbung, Kunst und Alltag." Und sie gibt ohne Umschweife zu, dass sie auf den Schleswigschen Wikingertagen selbst schon mal einen dieser Hörnerhelme erstanden hat, die ebenso beliebt wie unhistorisch sind. "Wir sind ja nicht humorlos", sagt sie.

Die Wikinger sind ein schönes Beispiel dafür, wie sich eine vage Erkenntnis aus der Vergangenheit selbständig machen kann, um zu einer ganz anderen Geschichte zu wachsen. Die wichtigste Errungenschaft der Wikinger war es, wendige, flachkielige Schiffe bauen zu können, die ihre großen Überfahrten und blutigen Überfälle überhaupt erst möglich machten. Schrift und gedankenschwere Selbstanalyse waren dagegen nicht ihre Stärke. Es gibt deshalb außer Runeninschriften praktisch keine Wort-Dokumente aus ihrer Kultur. Und die alten Geschichtsschreiber, die meistens über sie als rohe Plünderer schrieben, neigten zu Übertreibungen.

"Der Wikinger wird schon im Mittelalter als der große, kräftige, durchsetzungsfähige abenteuerlustige Entdecker dargestellt", sagt Ute Drews, "dabei weiß die Forschung heute ganz genau, dass die Menschen in der Wikingerzeit etwas kleiner waren, als wir das heute sind, und dass es wegen mangelnder Medizinversorgung und schlechter Ernährung im Norden außergewöhnlich schmächtige und kränkliche Personen gab." Gerade auf dem kargen skandinavischen Land nahe dem Polarkreis, wo das Getreide nicht reif wird, war das Leben entbehrungsreich - deshalb machten sich die Wikinger ja auf den Weg. Manche romantische Vorstellung verliert dadurch an Kraft, zum Beispiel jene vom trinkfesten Wikinger-Häuptling, der beherzt in eine Fleischkeule beißt. Im Zeitalter ohne Zahnpasta und -medizin hatten viele gar nicht mehr das Gebiss, um so etwas zu tun.

Und zur legendären Trinkkultur der Wikinger kann Ute Drews sagen, dass sie auf manchen Festen zwar wohl tatsächlich ausgeprägt war. Dass sie aber im schnöden Wikinger-Alltag auf hoher See eher den Notwendigkeiten der Zeit gehorchte. Das sogenannte Fahrtenbier war kein Genussmittel, um sich zu berauschen und lustig zu werden. "Die Frauen brauten es, um das keimbelastete mittelalterliche Wasser für die langen Seereisen keimfrei und lagerfähig zu bekommen", sagt Ute Drews.

Und so geht es weiter mit den Ungenauigkeiten in der Wikinger-Folklore. Der Hörnerhelm hat sich darin zum ersten Erkennungsmerkmal für einen nordischen Lebensstil entwickelt. Diese Helme sind heute Fanartikel für skandinavische Sportanhänger sowie ein verbreitetes Klischee in Mainstreamliteratur und Trickfilm. Die Wikinger bei "Asterix", bei "Wickie" und "Hägar dem Schrecklichen" tragen alle welche.

In der wirklichen Wikingerwelt gab es dagegen keine. Die Forschung kennt überhaupt nur einen originalen Helm, der den Wikingern zugeschrieben wird: 1943 wurde bei Ausgrabungen in Gjermundbu, einem Hof in der Gemeinde Ringerike, Norwegen, unter den Grabbeigaben eines Wikingerkriegers ein Helm gefunden, der einen schmalen Eisenkamm und ein festes, brillenähnliches Visier aufwies. Heute geht die Wissenschaft davon aus, dass bei den Wikingern ohnehin nur jene Kämpfer einen Helm hatten, die ihn sich leisten konnten. Und jene Helme, die es gab, sahen entweder so aus wie der von Gjermundbu oder hatten eine Nasenzunge, um das Gesicht zu schützen. Hörner? Wären im Kampf auch ziemlich unpraktisch gewesen.

Helme mit Hörnern tragen die Wikinger nur in Comics und Filmen. (Foto: Andy Crawford/Getty Images)

Hörnerhelme sind vermutlich eine Erfindung der romantischen nordischen Schriftstellerei des 19. Jahrhunderts. Bald gehörten sie zur Requisite bei Wagner-Opern - und irgendwann waren sie dann drin im Bewusstsein der Öffentlichkeit und sind wohl auch nicht mehr rauszukriegen. "Der Hörnerhelm ist einfach ein schönes Spielzeug, an dem die Menschen Freude gefunden haben", sagt Ute Drews. So wie sie Freude daran gefunden haben, Wikingerschiffe mit gehisstem Segel, ausgefahrenen Riemenrudern und Schilden an der Reling darzustellen. Auch wenn das aus historischer Sicht Quatsch ist, wie Ute Drews ausführt. "Entweder ich rudere ein Schiff oder ich segle es. Und die Schilde habe ich sowieso nicht an der Bordwand stecken, wenn ich mich auf dem Wasser bewege, weil die Wellen sie aus den Halterungen hebeln würden."

Die Krieger-Kultur hatte auch erstaunlich viel Sinn für Schönheit

Die Wissenschaft blickt mit Nachsicht auf das Wikinger-Verständnis der Masse. Wahrheit und Mythos existieren nun mal nebeneinander als unterschiedliche Facetten der Wahrnehmung. In gewisser Weise profitiert die Wissenschaft sogar vom Klischee. Ute Drews spricht vom "Zauberwort Wikinger". Ausstellungen mit diesem Zauberwort im Titel wecken besonders großes Publikumsinteresse. Es gibt viele erfolgreiche Wikinger-Museen in Skandinavien. Und auch das bei Schleswig über die untergegangene Wikinger-Siedlung Haithabu an der Schlei zieht weit über 100 000 Besucher im Jahr an. Es ist eines der erfolgreichsten Museen Schleswig-Holsteins.

Das Museum wird saniert, erst im Frühjahr 2018 macht es wieder auf. Aber die Freiluftanlage mit historischem Anleger und den sieben Wikinger-Häusern ist nicht geschlossen. Hier bekommt die Geschichte der Wikinger noch mal einen ganz anderen Klang. Die verklärenden Fantasien sind ein nachrangiges Thema. Wer hofft, in Haithabu einen Ort zu erleben, von dem aus die fiesesten Wikinger ihre Überfahrten starteten, den muss Ute Drews enttäuschen. "Mit Sicherheit ist Haithabu kein typischer Ausgangspunkt für solche Reisen gewesen."

Haithabu war ab dem achten Jahrhundert der zentrale Umschlagplatz im Netzwerk des frühmittelalterlichen Warenhandels. Zu seiner besten Zeit war es eine blühende Stadt. Haithabu liegt an der östlichen Seite einer Landenge zwischen der Schlei, einem 40 Kilometer langen Arm der Ostsee, und dem Flusssystem von Eider und Treene, über das man mit dem Schiff die Nordsee erreichen konnte. Mit Ochsenkarren brachten die Händler damals ihre Waren über den etwa 18 Kilometer langen Weg zwischen westlichem Anleger und östlichem Anleger und ersparten sich so die riskante Seefahrt um die Jütische Halbinsel.

Seit über hundert Jahren graben Archäologen im Gelände um das mittelalterliche Haithabu nach Überresten der Wikinger-Kultur. In den letzten tausend Jahren ist der Meeresspiegel hier um rund einen Meter gestiegen. Im feuchten Milieu hat sich organisches Material erhalten, das anderswo vermodert wäre. So konnten die Wissenschaftler rekonstruieren, wie eine Wikinger-Siedlung im neunten Jahrhundert ausgesehen haben könnte. Reetgedeckte längliche Holzhäuser sind zu sehen mit großen dunklen Räumen, Feuerstellen, Schlafplätze und Möbel. Komparsen in groben Stoffgewändern sollen den Eindruck von den damaligen Lebensverhältnissen verstärken.

An Ständen können Touristen Gegenstände aus dem Wikingerleben kaufen, authentischen Schmuck, authentische Trinkhörner, authentische Holzschwerter. Natürlich funktioniert auch hier das Spiel mit dem Klischee. Trotzdem lernt man die Wikinger in Haithabu noch von einer ganz anderen Seite kennen: als Kulturmenschen mit Sinn fürs Schöne. Und der Gedanke springt einen an, dass eine Geschichte wie die vom schlauen Wikingerjungen Wickie, der seinen Vater, den rauen Häuptling Halvar, am liebsten von dessen Raubzügen abbringen würde, so etwas wie eine Synthese aus den verschiedenen Wikinger-Wirklichkeiten darstellt. Der schwedische Schriftsteller Runer Jonsson hat damit jedenfalls das Moment des räuberischen Abenteuers und das der nordischen Idylle in einer sehr eingängigen Art zusammengebracht.

Haithabu ist 1066 untergegangen. Die Slaven kamen und brannten die Stadt nieder. Dieses Ereignis ist eines von mehreren, das Historiker dazu veranlasst hat, 1066 als das letzte Jahr der Wikingerzeit zu sehen. Aber war es das wirklich? Wenn man das ganze Theater betrachtet, das heutzutage um die Wikinger veranstaltet wird, ist es, als hätte ihre Zeit erst 900 Jahre später so richtig angefangen.

© SZ vom 12.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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