Historie:Deutschland ist bunt

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Blühende Landschaften, herrschaftliche Städte, ein Traum für Touristen: Ein Bildband feiert Deutschland um 1900 - in einer nie gesehenen Farbenpracht.

Von Christian Mayer

Es war einmal ein großes, reiches Land, eine Bilderbuchidylle, mit spektakulären Landschaften, prächtigen Städten, romantischen Burgen und pittoresken Wasserfällen. Tief im Süden, im Bergland der Bayern, sieht man Männer und Frauen in Tracht beim Blick auf verschneite Gipfel. Hoch im Norden, an der Nord- und Ostsee, elegante Damen und Herren in Festgarderobe beim abendlichen Spaziergang am Strand. Den Helden dieses Landes, den Kaisern, Königen und Kriegsherren, sind überall gewaltige Denkmäler gewidmet. Das Land, man sieht es in jeder Stadt, liebt seine Vergangenheit auf fast schon pedantische Weise; es feiert sich selbst, indem es das Unmögliche versucht: einen weiten Bogen zwischen Mittelalter und dem heranbrechenden 20. Jahrhundert zu schlagen.

Die Schattenseiten des Deutschen Kaiserreiches sucht man auf den Bildern vergeblich

"Deutschland um 1900 - ein Porträt in Farbe" heißt der großformatige Band, der gerade im Taschen-Verlag erschienen ist. Präsentiert werden vor allem Abbildungen, die im Fotochromverfahren hergestellt wurden: Mit dieser 1888 patentierten Technik konnte man aus Schwarz-Weiß-Negativen Farbabzüge herstellen. Ein Verfahren, das zu teilweise stark geschönten Resultaten führte, obwohl es das Ziel der Erfinder war, "Fotografien mit naturgetreuer Farbwiedergabe" zu schaffen. Es ging dabei weniger um Kunst als um das Geschäft: Zigtausende Motive kamen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auf den Markt, als Postkarten, aber auch im wandfüllenden Panoramaformat.

Wer vom Fernweh gepackt war, aber sich eine Auslandsreise nicht leisten konnte, griff damals gerne auf die exotischen Bilder aus Afrika, Amerika oder Asien zurück. Besonders populär waren aber auch die Darstellungen aus dem eigenen Land, das auch nach der deutschen Einigung von 1871 unter preußischer Führung regional sehr unterschiedlich ausgeprägt war. Wenn man so will, dann kann man den vorliegenden Band auch als Hommage an den deutschen Föderalismus verstehen: Nicht nur die boomenden Großstädte wie Berlin, Hamburg, München und Leipzig, auch die Provinzmetropolen liefern sich einen Wettstreit um den schönsten Hafen, die exklusivste Einkaufsstraße, die herrlichste Kunstsammlung, die längste Brücke und den modernsten Bahnhof. Bei letzterem behauptet Frankfurt am Main die Spitzenposition: Der 1888 eröffnete Eisenbahnpalast ist der größte in Europa und mit seinem 28 Meter hohen Tonnengewölbe eine touristische Attraktion - im Buch ist ihm eine Doppelseite gewidmet. Sie zeigt eine Stadtlandschaft noch ganz ohne Autos, aber mit elektrischen Straßenbahnen und Pferdedroschken, den Vorboten des urbanen Massenverkehrs.

"Die Welt von Gestern" (Stefan Zweig) ist längst verloren, teilweise sogar vergessen. Als heutiger Betrachter staunt man über den Glanz der alten Bürgerhäuser, der mittelalterlichen Türme, der Stadtvillen und großartigen Parks in Köln, Breslau, Magdeburg, Stettin, Königsberg oder Würzburg - viele Bauwerke sind im Zweiten Weltkrieg zerstört worden. Aber wo, fragt man sich, sind die Schattenseiten dieses Kaiserreiches, das nach den Worten des Historikers Herbert Ulrich "zwischen Selbstüberschätzung und Minderwertigkeitsgefühl" schwankt? Gibt es hier tatsächlich nur den Wohlstand einer stark wachsenden Mittel- und Oberschicht?

Die Spuren der Industrialisierung, die Spannungen in der Gesellschaft, die Nöte der Arbeiterschaft - sie sind wie weggewischt auf den Bildern. Dagegen ist viel von der wirtschaftlichen Dynamik zu sehen, die Deutschland in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg erlebte. Zwischen 1871 und 1910 stieg die Zahl der Deutschen um mehr als die Hälfte, von 41 auf 64 Millionen, während sich die Industrieproduktion versechsfachte. Augenfällig wird der neue Reichtum, wenn man die Seebäder der wilhelminischen Epoche betrachtet, die Logierhäuser für die besseren Kreise auf Norderney, Sylt, Usedom oder Rügen. Um die Jahrhundertwende blühte auch der Markt für Luxusreisen, die Reederei Norddeutscher Lloyd etwa setzt auf den Passagierverkehr für Begüterte, und so sind die Schnelldampfer Kaiser Wilhelm der Große, Kaiser Wilhelm II. und Kronprinzessin Cecilia Paläste auf hoher See, mit Speisesälen, wie man sie heute nur noch aus alten Hollywoodfilmen kennt.

Wer damals nicht ganz so viel Geld hatte, der reiste mit dem Baedeker durch Deutschland und besichtigte zum Beispiel die Wartburg in Thüringen. Von 1838 bis 1890 wurde sie, wie so viele Baudenkmäler im Land, im Geist des Historismus restauriert. Man wandelte hier auf Luthers Spuren, und als Katholik pilgerte man zum Kölner Dom, der größten Kathedrale des Landes, das nach einer mehr als 600-jährigen Bauzeit 1880 als höchstes Gebäude der Welt gefeiert wurde. Überhaupt war es die Zeit der Enthüllungen: Auch das 81 Meter hohe Kaiser-Wilhelm-Denkmal im thüringischen Kyffhäusergebirge wurde 1896 eingeweiht, es sollte die Stauferzeit mit der Ära der Hohenzollern verbinden. Oben reitet Kaiser Wilhelm I. als Kaiser des neuen Reiches, unten im Sockel erwacht der langbärtige Kaiser Barbarossa endlich aus seinem jahrhundertelangen Schlaf.

Deutschland um 1900 sieht aus wie ein glückliches Land. Ein Land, das wenig Probleme zu haben scheint oder großartig ist im Verdrängen. Ein paar Jahre später, im Sommer 1914, ist der Traum vorbei. Wenn es je so etwas gegeben hat wie die "gute, alte Zeit", dann kann man sie hier besichtigen. Als inszenierte Erinnerung.

"Deutschland um 1900". Ein Porträt in Farbe. Marc Walter, Sabine Arqué, Karin Lelonek. Taschen 2015.

© SZ vom 05.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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