Historie:Deutsche Höllenfahrt

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Im oberbayerischen Polling verbrachte Thomas Mann häufig den Sommer, hier spielt auch sein großer Roman "Doktor Faustus". Spurensuche in einer Idylle mit Abgründen.

Von Reymer Klüver

Das also soll es sein, das bessere Deutschland.

Heile Welt, ein Sehnsuchtsort, scheinbar unberührt vom Ungeist der Zeiten. Ein Dorf inmitten einer grünen, sanft gewellten Feld-, Wald- und Wiesenlandschaft; am Horizont, im Gegenlicht der Frühjahrssonne, das Bergpanorama mit seinen noch immer schneebedeckten Gipfeln, in der Senke die Ansammlung weißgeputzter Häuser mit rotgedeckten Dächern und dem trutzigen Turm der Klosterkirche. Das ist Polling, ein gut 2500 Einwohner zählendes Dorf, nicht weit von der Kreisstadt Weilheim entfernt in Oberbayern, im Pfaffenwinkel, gelegen. Als Pfeiffering hat es literarische Weltkarriere gemacht: als einer der Schauplätze in Thomas Manns Jahrhundertroman "Doktor Faustus", der 1947 erschienen ist.

(Foto: N/A)

Wie in vielen Werken Manns steht ein Künstler im Zentrum, hier der Musiker und Komponist Adrian Leverkühn, der - wie kann es beim Fauststoff anders sein - seine Seele dem Teufel verkauft, um zu künstlerischer Vollkommenheit zu gelangen. Tatsächlich aber ist der "Doktor Faustus", von 1943 an im amerikanischen Exil entstanden, nicht nur ein Künstlerroman, sondern ein hochpolitisches Buch, eine Abrechnung mit Deutschlands Selbstüberhebung und Höllenfahrt, dem Absturz in die Nazi-Barbarei. Pfeiffering - Mann hat sich den Namen aus dem spätmittelalterlichen Faustus-Volksbuch geborgt - erscheint da als Idyll jenseits der Zeiten, wohin der Künstler vor der Welt fliehen kann und wo das Böse keinen Zutritt zu haben scheint. Aber das erweist sich - auch das kann bei einer Teufelsgeschichte nicht anders sein - als Täuschung.

"Es gibt einen schattigen Garten, sehr gute Radelwege, solides Essen, Mistgeruch u.s.w."

Fleißige Seitenzähler haben herausgefunden, dass mehr als die Hälfte des Romans in diesem gar nicht so fiktiven Ort Pfeiffering spielt. Thomas Mann kannte das Dorf Polling genau. Er hatte selbst hier zu Beginn des 20. Jahrhunderts einige Male seine Ferien verbracht - und geschwärmt. "Hier lebt man ein recht zuträgliches Leben", schrieb er 1903 an einen befreundeten Maler, "es gibt einen schattigen Garten, sehr gute Radelwege, solides Essen, Mistgeruch u.s.w. Komm also bald." Polling war eines der Künstlerdörfer, von denen es damals eine ganze Reihe im Münchner Umland gab. Manns Mutter Julia lebte hier über Jahre zurückgezogen, seine geliebte Schwester, die Schauspielerin Carla Mann, nahm sich hier 1910 das Leben - noch Jahre später kehrte er immer wieder nach Polling zurück.

Eine Stunde, so heißt es im Roman, braucht der Schnellzug von München in die Kreisstadt Waldshut, dann noch einmal zehn Minuten mit der Bummelbahn nach Pfeiffering. Heute rauscht die Werdenfelsbahn in einer guten halben Stunde von der bayerischen Landeshauptstadt, vorbei an den Ufern des Starnberger Sees, in die Kreisstadt Weilheim (wo man im örtlichen Schuhgeschäft "auch mit D-Mark bezahlen" kann, so verspricht es jedenfalls ein Plakat im Schaufenster). Weiter geht es dann mit dem Bus in sieben Minuten nach Polling; Züge halten dort längst nicht mehr.

Ansicht des Klosters von Polling, 1900. (Foto: J. A. Hilger, Polling-Weilheim)

Die Gemeinde Polling hat ihre literarische Zweitexistenz schon vor Jahren als touristisches Potenzial entdeckt und auf fünf Kilometern einen Doktor-Faustus-Rundweg abgesteckt, "unter kräftiger Mithilfe der Pollinger Weinbruderschaft", wie es ausdrücklich in einem Faltblatt für die Wanderer heißt. Die Weinbrüder haben gute Arbeit geleistet.

Vorbei am träge dahingleitenden Tiefenbach führt der Weg durchs sogenannte Torwarthaus ins ehemalige Kloster Polling. Im Torbogen hängen Informationskästen der Gemeinde. Musikverein, Freiwillige Feuerwehr, Heimatverein, Veteranen- und Reservistenverband und Gebirgsverein stellen sich vor; der Sportverein, Abteilung Turnen, rät, wie man fit durch die Jahreszeiten kommt. Die CSU wirbt für ihren Bayernplan. Gegenüber stellen katholische und evangelische Kirchengemeinde einträchtig nebeneinander aus. Bei der Bundestagswahl 2017 schnitten die Christsozialen deutlich besser ab als im Durchschnitt des Landes. 45,5 Prozent der Pollinger votierten immerhin noch für sie, landesweit waren es nur 38,8. Die Roten mussten sich in Polling gar mit mageren 9,3 Prozent zufriedengeben, die Grünen kamen immerhin auf knapp 12,6. Und die neuen Rechten von der AfD landeten weit unterdurchschnittlich bei 8,7 Prozent. Heile Welt. Gott mit dir, du Land der Bayern.

Die erste Tafel des Weges führt den Faustus-Wandersmann indes gleich ganz tief hinab ins Doppelbödige, ins Abgründige zumindest des Romanidylls: "Was ist vor unseren Augen oder auch nicht just vor unseren Augen, im Namen des ,Volkes' nicht alles geschehen", ist dort wuchtig zu lesen, zitiert aus den vorderen Seiten des Buchs, "was im Namen Gottes, oder der Menschheit, oder des Rechtes nicht wohl hätte geschehen können!" Gemeint ist der Abstieg Deutschlands ins Nazitum, im Roman gleichnishaft gespiegelt im geistigen Verfall und in der finalen Umnachtung Leverkühns.

Das Kloster in Polling heute, halb von einem Baum verdeckt. (Foto: Sonja Marzoner)

An den weiteren Stationen werden auf den Schildern dann die liebevoll detaillierten Beschreibungen des Ortes und seiner nächsten Umgebung zitiert, die Thomas Mann ganz aus der Erinnerung im Exil in Los Angeles notiert hat. Der Weg passiert das einfache Ökonomiehaus, wo die Mutter des Schriftstellers lebte und seine Schwester aus dem Leben schied. Als verwitwete Senatorin Rodde und exaltierte Schauspielerin Clarissa lässt Mann seine engste Verwandtschaft im Roman erscheinen, sogar den Selbstmord macht er zum Teil der Handlung.

Sogar die "Gemeindebank" auf der Anhöhe ist noch hier, so wenig hat sich verändert

Entlang der Mauer des einstigen Klostergartens führt der Weg dann hinaus aus dem alten Ortskern. Die Straßen hier sind nach Persönlichkeiten benannt, die Namen tragen, als entstammten sie direkt Manns Roman: nach Rochus Dedler (übrigens auch ein Komponist, er schrieb 1816 eine Pollinger Messe) oder Eusebius Amort (ein 1775 in Polling gestorbener Moraltheologe). Jenseits der Bahnlinie geht es hinauf zum Ammerberg mit dem prächtigen Panoramablick auf Dorf und Wettersteingebirge.

Weiter zum schilfbestandenen Streicherweiher, der im Roman als Klammerweiher erscheint, in dem sich der Komponist - wie angeblich einst Ludwig II. im nahen Starnberger See - ertränken will. Woran er im Gegensatz zum König indes in letzter Minute gehindert wird. Selbst die sogenannte Gemeindebank auf einer benachbarten Anhöhe ist genauso erhalten wie das im Roman erwähnte Fichtenwäldchen, nebst dem "Kranze schattender Ahorne".

„Hier lebt man ein recht zuträgliches Leben“: Der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann (1875 – 1955) schildert in „Doktor Faustus“ die Geschichte einer vergeblichen Weltflucht ins beschauliche Polling alias „Pfeiffering“. (Foto: dpa)

Die Erinnerung an die verlorenen Zeiten in Oberbayern hat Thomas Mann, zumal im Exil unter Kaliforniens Palmen, ohne Zweifel beschäftigt. War es also Sentimentalität, die ihn bewogen hat, ausgerechnet Polling alias Pfeiffering ins geografische Zentrum des Romans zu rücken? Oder, wie die Pollinger Wein- und Faustusfreunde in ihrem Begleitfolder zum Weg fragen: "War es die schöne Landschaft?"

Sicherlich all das. Auch.

Aber was beim Blick von der Gemeindebank auf der Anhöhe leicht als Dorf wie viele andere Dörfer Oberbayerns durchgehen könnte, präsentiert sich schon nach erstem Nachlesen ein bisschen anders - und noch mehr dann im tatsächlichen Augenschein. Polling ist ein ziemlich alter Kulturort, wenn man so will, ein Ort uralter deutscher Kultur. Der Legende nach hatte hier Herzog Tassilo III. von Bayern eine Hirschkuh gejagt. Sie blieb auf einmal stehen und scharrte am Boden. Die Jäger fanden dort ein Holzkreuz.

An genau dieser Stelle ließ der Herzog ein Benediktinerkloster errichten (es wurde später ein Augustiner-Chorstift). Um das Jahr 750 soll das gewesen sein. Tatsächlich wurde das Kloster wohl etwas später von einer örtlichen Adelsfamilie gestiftet. 1002 empfing hier König Heinrich II. die Reichsinsignien.

Im Mittelalter war der Ort Ziel einer populären Wallfahrt zum Heiligen Kreuz, eben wegen der Legende. Jörg Ganghofer, auch Jörg von Polling genannt, der Baumeister der Münchner Frauenkirche, dürfte um 1450 beim Bau der Pollinger Pfarrkirche zumindest mitgewirkt haben. In den aufgeklärten Zeiten des 18. Jahrhunderts machten die Augustiner-Chorherren die Klosterbibliothek mit 88 000 Bänden zur größten Sammlung Bayerns nach der Münchner Hofbibliothek und das kleine Dorf zu einem geistlichen und geistigen Zentrum Bayerns. Sogar eine Sternwarte gab es.

Seit jener Zeit prangt über dem Portal der Stiftskirche des Klosters in goldenen Lettern der Schriftzug: "liberalitas bavarica" - eine Formel, die später gerne als Beleg für eine angeblich spezifisch bayerische Art der Großherzigkeit und Freizügigkeit herangezogen wurde. In Wahrheit verweist sie wohl nur auf die Großzügigkeit der Stifterfamilie, deren Schenkung einst die Grundlage des Klosters bildete. Wie auch immer - all das liegt verborgen in einem Ort, wo der Mistgeruch noch heute gern in der Luft liegt.

Dass Thomas Mann also Pfeiffering nach dem Vorbild dieses Ortes geformt hat, ist jedenfalls kaum ein Zufall - nicht in einem Roman, der das Wesen spezifisch deutscher Kultur (und deutschen Ungeists) zu ergründen sucht. Wenn man so will - und der Wanderer wird noch Anlass bekommen, am Ende des Faustus-Wegs darüber nachzusinnen -, hat Mann die Frage nach dem Wesen deutscher Kultur aufgeworfen, was als Diskussion über den unglücklichen Begriff der Leitkultur in eine sehr deutsche Debatte mündete.

Mann selbst hatte diese Frage sehr verschieden beantwortet. In jungen Jahren hing er der Idee einer spezifisch deutschen Besonderheit an, eines Sonderwegs kühler Selbstüberhebung. Erst später änderte sich das unter dem Eindruck der chauvinistischen Verirrungen, die in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs führten, des "Weltfests des Todes", wie er es nannte. In seinem Alterswerk "Doktor Faustus" ist der Rückzug des Künstlers (und Intellektuellen) in wärmende Innerlichkeit und lärmende Ablehnung aller Einflüsse von außen eben Teil der deutschen Höllenfahrt.

In der Klosterkirche heute: "Bitte Esamasi hilf mir, dass ich in Deutschland bleiben kann."

Die letzte Tafel des Faustus-Weges zitiert wieder aus dem Roman: "Ist es bloße Hypochondrie, sich zu sagen, dass alles Deutschtum, auch der deutsche Geist, der deutsche Gedanke, das deutsche Wort von dieser entbehrenden Bloßstellung mitbetroffen und in tiefe Fragwürdigkeit gestürzt worden ist?" Dann folgt der bedeutungsschwere allerletzte Satz des Buchs: "Gott sei euerer armen Seele gnädig, mein Freund, mein Vaterland."

Begleitet von diesem Gedanken mag der Faustus-Wanderer noch ein wenig Einkehr suchen in der benachbarten Pollinger Stiftskirche, über deren Portal ja an bayerische Großzügigkeit erinnert wird. Aus bloßer Neugier wird er im offenen Bitt- und Gebetsbuch, einer dicken Kladde, zu blättern beginnen, die im Vorraum ausliegt. Und bleibt dann womöglich bei einem Eintrag hängen, den dort eine Frau mit Bleistift im vergangenen Oktober notiert hat. "Esamasi", ist dort zu lesen, "bitt hilf mir, dass ich bis nächstes Yahr Schon schreiben kann. Und auch meine Kinder." Esamasi ist der arabische Name für Christus. Und dann darunter: "Bitte Esamasi hilf mir, dass ich in Deutschland bleiben kann."

Das also soll es sein, das bessere Deutschland.

© SZ vom 21.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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