Hell's Kitchen (VIII):Denk mal

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(Foto: N/A)

Dass das Essex World Cafe in der Nähe des ehemaligen World Trade Centers geschlossen hat, betrübt viele - vor allem den Freund unseres Kolumnisten.

Von Christian Zaschke

Dass das Essex World Cafe geschlossen hat, betrübt wohl niemanden in New York so sehr wie meinen Freund V., den Fremdenführer. Es lag direkt am World Trade Center, wo V. auf seinen Touren gern zur Mittagszeit ankommt. Dort erzählt er den Reisegruppen von den Anschlägen vom 11. September 2001. Er erzählt, wo er damals war, er erzählt von seinen Freunden und Nachbarn, er erzählt Geschichten aus dem Innersten der Stadt. Meist hören die Touristen eine Weile zu, aber sobald V. eine kurze Pause in seinen Ausführungen einlegt, erzählen sie umgehend uninteressante Geschichten darüber, was sie selbst am 11. September getan haben. V. hört sich das alles an, er ist ein geduldiger Mann, der seit mehr als 20 Jahren Besucher durch New York führt.

Wo die beiden Türme des alten World Trade Center standen, sind jetzt zwei schwarze Löcher. An den Wänden der Löcher läuft Wasser hinab. Es ist, wenn man das so sagen kann, ein gelungenes Denkmal. Als ich neulich mit V. auf dem Weg in die Whitehorse Tavern war, die sich, wenn man schnell geht, exakt elf Minuten vom World Trade Center entfernt befindet, machten wir einen Abstecher zum Denkmal. Wir stellten fest, dass die Touristen am ehemaligen Südturm neuerdings Münzen ins Wasser werfen, als sei das schwarze Loch der Trevi-Brunnen. V. blickte auf die Münzen. Er seufzte.

Ins Essex World Cafe brachten viele Fremdenführer ihre Reisegruppen zum Mittagessen. V. sagt, eine beliebte Kombination unter Touristen sei Kuchen und Gyros gewesen. Er setzte seine Gruppen ins Café, er wartete, bis sie bestellt hatten, dann sagte er, dass er jetzt selber 60 Minuten Pause habe. Deshalb gehe er kurz in ein Etablissement, das lediglich elf Minuten entfernt sei. Diese 60 Minuten waren seine Oase. Im vergangenen Jahr hat das Essex World Cafe zugemacht, und einen in jeder Hinsicht so gut gelegenen Ort, um gesprächige Gruppen von Touristen zu parken, hat V. noch nicht wieder gefunden.

Als wir zum ersten Mal gemeinsam am World Trade Center waren, erzählte ich V., als er eine kurze Pause in seinen Ausführungen einlegte, dass ich am 11. September an einer Reportage über einen von Unkraut bewachsenen Sportplatz in München arbeitete, den niemand mehr benutzte. Diese Reportage ist, wenn man von Dan Browns Buch "Sakrileg" absieht, von dem ich einst in einer übermenschlichen Anstrengung fast 50 Seiten gelesen habe, weil es in einem dänischen Ferienhaus herumlag und ich meine mitgebrachten Bücher (und die meiner Frau) bereits durch hatte, das Langweiligste, das jemals geschrieben und gedruckt worden ist, und ich kann versichern, dass davon fast 20 Jahre später zu erzählen auch nicht spannend war. V. hörte sich das an, geduldig. Als ich fertig war, seufzte er und dirigierte mich schnellen Schrittes in ein lediglich elf Minuten entfernt liegendes Etablissement.

© SZ vom 23.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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