Hell's Kitchn (XXXVIII):Balkon

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Wenn man eines in New York auf keinen Fall will, dann ist es, dass sich jemand mal um irgendetwas kümmert. Unser Kolumnist kann das an mehreren Beispielen belegen. Gerade, zum Beispiel, soll bei ihm mal wieder etwas repariert werden.

Von Christian Zaschke

Das Beste an der bescheidenen Bleibe, die ich in einem ehemaligen Schwesternwohnheim in Hell's Kitchen gefunden habe, ist der Balkon. Ich verbringe viel Zeit auf diesem Balkon und studiere dort, mehrmals in der Woche, die verschiedenen Blautöne des Himmels. In einer Stadt wie New York braucht man ein paar Rituale, um nicht durchzudrehen.

Der Balkon ist, ehrlich gesagt, nur eine mit welliger Teerpappe ausgelegte Freifläche, die von einem wackligen Geländer umgeben wird. Alle zwei Monate schleppt Hausmeister Giovanni Colon, dessen Name sich, je nachdem, wie man gerade auf ihn zu sprechen ist, mit Johannes Doppelpunkt oder Johannes Dickdarm übersetzen lässt, eine Inspekteurin auf den Balkon, die am Geländer rüttelt und vorsichtig auf die Blasen tritt, die sich unter der Teerpappe gebildet haben.

"Sollte man sich mal drum kümmern", sagt sie jedesmal.

"Das ist überhaupt nicht nötig", sage ich immer.

Wenn man eines in New York auf keinen Fall will, dann ist es, dass sich jemand mal um etwas kümmert. Ich habe tagelang in mit Plastikfolie eingepackten Möbeln gelebt, weil sich jemand um einen neuen Anstrich kümmern sollte. Niemand kam. Einmal bauten sie ein Gerüst auf meinen Balkon und hängten einen Korb an Seilen dran auf, in dem ein Fassadenreiniger an der Fassade auf und ab fahren sollte, um eben jene zu reinigen. Nicht ein einziges Mal hat jemand diesen Korb bestiegen, und nach vier Monaten haben sie das Gerüst kommentarlos abgebaut. Ich dachte damals, das passt gut zu einer Stadt, in der viele irre sind, aber niemand lebensmüde.

Ende letzter Woche sagte Giovanni, es sei so weit. Jemand würde die Blasen unter der Teerpappe wegmachen und ein paar Schrauben ins Geländer drehen. Das Ganze sei in drei, vier Tagen vorbei.

"Das ist wirklich überhaupt nicht nötig, Giovanni", sagte ich.

"Wir machen das für dich", sagte Giovanni. Er nannte mich "Chris".

Ich habe womöglich vergessen zu erwähnen, dass ich auf dem Balkon einen Garten angelegt habe. Ich ziehe Tomaten, Chilis, Bohnen, dazu habe ich einen Hibiskus, der fortwährend Blüten hervorbringt und abwirft, als fast manisches Symbol des Werdens und Vergehens. Es ist ein Zen-Garten.

Am Sonntag habe ich den Garten abgebaut. Ich habe ihn komplett in meine Wohnung verlagert, in der kein Platz dafür ist. Am Montag sollten draußen die Arbeiten beginnen. Nichts geschah. Auch am Dienstag geschah nichts. Mittwochs passierte: nichts. Am Donnerstag legten sie im Treppenhaus und in meiner Wohnung Pappe aus, damit sie keine Fußabdrücke hinterlassen würden auf dem Weg zum Balkon. Das ist offenbar Vorschrift.

In diesem Moment wusste ich, dass sie niemals wiederkommen würden.

© SZ vom 05.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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