Hell's Kitchen (XV):Angekommen

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(Foto: N/A)

Unser Kolumnist trifft in New York einen jungen Mann mit verwaschenen Jeans namens Tabib, der ganz dringend Geld braucht: Also gibt er dem Bittsteller 14 Dollar. Ob sich nun eine große Schwärze auf Tabibs Seele legt, wenn er das Geld nicht zurückzahlt?

Von Christian Zaschke

Ich stand an der Kreuzung von 8th Avenue und 51st Street, als mich ein Mann ansprach. Anfang 30, helle Turnschuhe, verwaschene Jeans, dunkles T-Shirt. Wer trägt denn heute noch verwaschene Jeans, dachte ich. Ob ich aus der Gegend sei, wollte er wissen.

Vor eineinhalb Jahren bin ich nach Hell's Kitchen gezogen, wo ich in einem ehemaligen Schwesternwohnheim eine bescheidene Bleibe gefunden habe. Nicht weit von der Wohnung befindet sich das Rudy's, eine exzellente Schrottbar, von der aus verschiedenen Gründen nicht verraten werden kann, wo sie genau liegt. Man kennt mich dort. Im Amish-Supermarkt, der ein Labyrinth aus sich verzweigenden Gängen ist, in das der Legende zufolge schon Touristen hinein-, aber nie wieder herausgefunden haben, weiß ich exakt, wo das Knäckebrot steht und wo die hart gekochten Eier versteckt sind. Wenn ich am Restaurant Briciola vorbeilaufe, winkt mir der ebenso tätowierte wie französische Chefkellner zu. Manchmal kommt er raus auf einen Plausch. Neulich fragte er, ob ich aus der Gegend sei. Ich antwortete: "Ich glaube, das kann man so sagen."

Ah, sagte der Mann mit den verwaschenen Jeans, das sei gut, er habe das Problem, dass seine Kollegen schon weg seien, er arbeite auf dem Bau, und er habe sein Portemonnaie nicht dabei, und eben habe sich der Akku seines Handys verabschiedet, er müsse aber nach Hause, und die Fahrt vom Busbahnhof Port Authority koste 14 Dollar, und ob ich ihm nicht aushelfen könne, er zahle morgen alles zurück.

Natürlich wusste ich, dass er log. Es war ein herrlicher Nachmittag, eben hatte ich mit dem Schriftsteller Gary Shteyngart zwei Stunden lang in einem Park gesessen, wir hatten meist schönsten Blödsinn geredet, aber wir hatten auch über das Gute im Menschen gesprochen, über Anteilnahme, über Vertrauen. "Wie heißt du?", fragte ich. "Tabib", sagte der Mann.

Ich sagte, er solle mit zum ehemaligen Schwesternwohnheim kommen und unten warten, während ich Bargeld hole. Ich steckte 14 Dollar in einen Umschlag und erklärte ihm, dass er das Geld beim Pförtner zurückgeben könne. "Das mache ich. Versprochen", sagte Tabib. Ich sagte sehr, sehr freundlich, dass sich eine große Schwärze auf seine Seele legen werde, falls er das Versprechen bräche. Er wirkte plötzlich unsicher. "Eine große Schwärze", sagte ich noch freundlicher, "auf deine Seele." Ich will nicht behaupten, dass es nach Schwefel roch, als ich das sagte. Aber Tabib wollte nur noch weg.

Wer vom ehemaligen Schwesternwohnheim zum Busbahnhof Port Authority will, geht nach links. Tabib ging eilig nach rechts, während ich ihm nachwinkte. Es war, wie gesagt, ein herrlicher, ein geradezu flirrender Nachmittag, und ich dachte, dass 14 Dollar kein allzu hoher Preis sind

für das Gefühl, nun wirklich in Hell's Kitchen angekommen zu sein.

© SZ vom 13.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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