Hell's Kitchen (XCVI):Kuchen

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Jedes Jahr ist unser Kolumnist in New York zum Thanksgiving Dinner bei Heidi P. eingeladen. Dieses Mal muss in etwas kleinerer Runde gefeiert werden - und zum Nachtisch wird noch eine echte Überraschung serviert.

Von Christian Zaschke

Kleine Runde diesmal bei Heidi P.s Thanksgiving-Dinner. Drunk Pam? Nicht eingeladen. Wavy Davey? Nicht eingeladen. Die neurotische Verwandtschaft von Heidis Freund R. und die in Sachen Neurose allzeit und immer mühelos noch eine Schippe drauflegende Verwandtschaft von Heidi selbst? Nicht eingeladen.

"Ihr Lieben", hatte Heidi P. in ihrer Einladung geschrieben, "wegen Corona müssen wir das Thanksgiving-Dinner in diesem Jahr auf fünf Leute beschränken. Es wäre schön, wenn ihr trotz allem kommen könntet."

Hier die exklusive Liste der Teilnehmer des Thanksgiving-Dinners im Hause P. im Jahr 2020: Heidi P., aus Pittsburgh stammende Gastgeberin. R., schottisch-philippinischer Lebensgefährte der Gastgeberin. K. aus Kalifornien, Hausfreundin, die selbst Drunk Pam unter den Tisch trinkt und sich damit selten einen Gefallen tut. Um ehrlich zu sein: absolut nie. Nori K., japanischer Elektriker.

Und dann hatte Heidi eben noch mich eingeladen. Christian Z., deutscher Gschaftlhuber, der im Auftrag einer gewissen Süddeutschen Zeitung durch New York marodiert.

"Danke, das ist so freundlich, und ich bin echt gerührt, aber ich kann unmöglich einen der wenigen Plätze einnehmen", schrieb ich.

"Doch", schrieb Heidi P. zurück.

An Thanksgiving lese ich seit 2017 immer ein Buch von zwei italienischen Autoren, es heißt "Der Liebhaber ohne festen Wohnsitz", aber in diesem Jahr konnte ich es nicht finden. Sollte ich es in einem Moment des Leichtsinns verliehen haben, kommt es vermutlich nie mehr zurück, denn es ist eins von den Büchern, die man nicht wieder hergeben mag. Ich packte zwei Flaschen Wein in eine Tasche und nahm die Subway runter nach Soho. Wie immer hatte Heidi mich neben Nori K. platziert, weil niemand außer mir dessen japanisches Englisch versteht.

Wir aßen den ersten Gang an Vorspeisen, wir aßen den zweiten Gang an Vorspeisen, wir aßen die Kürbissuppe, wir aßen den Truthahn, wir aßen die Beilagen, und als niemand mehr auch nur ein Minzblatt runtergekriegt hätte, servierte Heidi die Kuchen. Beiläufig fragte ich Nori, der davon lebt, dass er irre teure Röhrenverstärker für Leute baut, die gerne zu viel Geld in ihre Hi-Fi-Anlagen investieren, was genau ihn nach New York verschlagen habe.

"Du willst wissen, wie viel einer meiner Verstärker kostet?", fragte er.

"Nein", sagte ich, "ich will wissen, was genau dich nach New York verschlagen hat."

Heidi reichte Nori ein Stück Kuchen. Pecan Pie. Er sah uns an. Er blickte auf Heidi P. Er blickte auf R ., auf K., auf Z. Dann erzählte er, in einem Englisch, das ausnahmsweise nicht nur ich verstand, eine knappe Stunde lang die Geschichte seines Lebens.

Als er damit fertig war, belud er sein Stück Kuchen mit Sahne.

© SZ vom 05.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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