Hell's Kitchen (LXXX):Ratten

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(Foto: N/A)

Unser New Yorker Kolumnist wollte eigentlich schon lange darüber schreiben, wie seine Stadt zu ihrem stählernen Schlag zurückkehrt. Dann starb der Amerikaner George Floyd, es gab wichtigere Themen, und viele Geschichten blieben unerzählt. Bis jetzt.

Von Christian Zaschke

Vor zweieinhalb Monaten lief ich Stunde um Stunde durch New York und sprach mit Restaurantbesitzerinnen, Fußbodenverlegern, Gitarrenbauern, Gemüsehändlern und Fremdenführerinnen, und wenn ich nicht lief, saß ich im Battery Park gegenüber der Freiheitsstatue und versuchte erfolglos, die Angler in Gespräche zu verwickeln. Die Idee war, eine Reportage darüber zu schreiben, wie New Yorks Puls zu seinem stählernen Schlag zurückkehrt, nachdem das Virus ihm alles Metallene ausgetrieben hatte.

Ich hatte mich bereits im März infiziert und danach mehrere Wochen in meiner Bleibe in Hell's Kitchen ausgeharrt. Eine Zeit, in der ich zu oft Kniffel gegen mich selbst spielte und mit entschiedener Absicht kein Corona-Tagebuch schrieb. Eine Zeit, in der ich bisweilen dachte, ich sitze im Knast.

Meine Symptome: Schnupfen, zehn Tage nichts gerochen. Ich hatte Glück. Da ich im chinesischen Sternzeichen des Schweins geboren wurde, hat mich das - obwohl ich vollkommen unesoterisch veranlagt bin - nicht überrascht. Das Glück und der Schmerz sind seit jeher meine Begleiter.

Die Reportage habe ich dann nie geschrieben, was daran lag, dass Ende Mai der Afroamerikaner George Floyd von einem weißen Polizisten getötet wurde und es wichtigere Themen gab als die Befindlichkeiten New Yorks.

Ich schrieb und schrieb, aber nie über die Fußbodenverleger. Nie über die Uber-Fahrer, die ihre Wagen aus Angst vor Infektion mit Plastikfolien vollgetackert hatten. Nie über die so spürbare Verletzlichkeit dieser Stadt, die sich für unverwundbar gehalten hatte. Und nie über die fuchsgroße Ratte von Brooklyn.

Damals war ich auch nach Prospect Heights gefahren, um mit Ilene und Sara zu sprechen, die dort ein Lebensmittelgeschäft betreiben. Wegen der Pandemie durften sie niemanden reinlassen, aber die Nachbarn haben im Internet weiterbestellt, weil sie den Laden lieben. Während wir redeten, standen die beiden hinter einem Tisch am Eingang des Ladens und reichten ununterbrochen die Papiertüten mit den Bestellungen raus. Ich saß in zwei Metern Abstand auf einer Holzkiste.

Nach einer halben Stunde spazierte eine Ratte vorbei, die so lang war wie mein Unterarm. Ilene und Sara blieben cool, ich sprang auf und rief: "Habt ihr das gesehen?" Nach weiteren zehn Minuten spazierte die Ratte zurück und verschwand nach links um die Ecke in die St. Marks Avenue. Ilene und Sara erklärten mir, dass auch die zwei Millionen New Yorker Ratten unter der Krise litten, weil durch die Schließung der 27 000 Restaurants der Stadt deren Nahrungsgrundlage weggefallen sei.

"Hm", sagte ich.

"Und weißt du, welchem Tier das Jahr 2020 im chinesischen Kalender gewidmet ist?", fragte Sara.

"Nein", log ich, da ich vollkommen unesoterisch veranlagt bin.

© SZ vom 08.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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