Hell's Kitchen (LXXIX):Liebe Götter

Lesezeit: 2 min

(Foto: N/A)

In Hell's Kitchen trifft man seit Jahren dieselben Menschen auf der Straße, zum Beispiel ein paar schildkrötenhafte Männer. Nun sind sie seit ein paar Wochen plötzlich verschwunden. Und unser Kolumnist hat einen Verdacht.

Von Christian Zaschke

Also, Götter, die ihr für die 51st Street in Hell's Kitchen zuständig seid. Ich habe den Verdacht, dass die Corona-Krise von euch unbemerkt etwas Ungutes anrichtet. Ihr kennt die Menschen hier in der Straße, oder? Ihr kennt die Frau, die ihre Zeit damit verbringt, zwischen 8th und 9th Avenue hin- und herzuwandern, ostwärts, westwärts, immer wieder, den ganzen Tag? Sie mag 30 sein, sie mag 60 sein, es ist unmöglich, ihr Alter zu schätzen. Ich glaube, dass sie abhängig von Crack war oder ist. Ihre Gedanken sind zu lose, um in unserer Welt noch Halt zu finden.

Es gibt hier, das wisst ihr, schildkrötenhafte Männer, die auf den Treppenaufgängen vor den Häusern sitzen, Zigaretten rauchen und einen eigentümlichen Geruch verströmen. Es gibt die Bewohner des Halfway House schräg gegenüber, einer Einrichtung für Menschen, die aus dem Knast gekommen sind und lernen sollen, sich wieder ins sogenannte Leben zu integrieren. Diese Integrationsversuche sehen zum Beispiel so aus, dass sie den Deutschen aus dem ehemaligen Schwesternwohnheim in Gespräche verwickeln. Oft geht es dabei um die Frage, ob der Deutsche ein paar Dollar übrig habe. Aber manchmal, und jetzt hört zu, geht es um die Frage, wann genau die Götter uns verlassen haben.

Schaut: Seit vor fünf Wochen die auf maximal drei Wochen angelegte Renovierung meines Balkons begonnen hat, deren Ende noch lange nicht abzusehen ist, bin ich jeden Tag draußen und spaziere durchs Viertel. Nicht ein einziges Mal habe ich die wandernde Frau gesehen. Die Schildkröten-Männer sind verschwunden. Und ich frage mich, ob das Halfway House vorübergehend geschlossen hat.

Was ich stattdessen sehe, sind junge Männer, deren Alter sich ohne Probleme schätzen lässt. Sie sind unter 30, sie sind fit und haben Zähne. Sie laufen die Straße entlang, ostwärts, westwärts, immer wieder. Manchmal sitzen sie sogar auf den Treppenaufgängen. Sie beginnen Gespräche, die sich allein darum drehen, dass der Deutsche aus dem ehemaligen Schwesternwohnheim doch sicherlich ein paar Dollar zu viel in seinen Hosentaschen vergraben habe.

Liebe Götter, ich habe den Verdacht, dass hier eine Art von Gentrifizierung stattfindet. Dass sich wegen Corona und der damit verbundenen, vorübergehenden Abwesenheit des Stammpersonals in unserer Straße ein neues Geschäftsfeld eröffnet hat, und dass die jungen Bettler die alten Bettler vertreiben. Keine Sorge, wir haben die Dinge hier ganz gut im Griff. Ich habe schon mit Tracey Westmoreland gesprochen, dem Botschafter von Hell's Kitchen. Aber eins sage ich euch: Ich habe echt nicht das beste Gefühl. Und wenn, Götter, die Sache aus dem Ruder läuft, dann erwarte ich von euch eine massive Bodenpräsenz in der 51st Street. Und zwar pronto.

© SZ vom 01.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: