Hell's Kitchen (LXX):Superhelden

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(Foto: N/A)

Seit bei unserem New Yorker Kolumnisten Antikörper festgestellt wurden, bewegt er sich wieder angstfrei durch die Stadt. Einer muss schließlich nach dem Rechten sehen.

Von Christian Zaschke

Auf dem Parkplatz, den ich von meinem Balkon aus überblicke, standen am Montag um 14.11 Uhr 22 Autos. Ich schrieb die Zahl in mein Notizbuch. Am Dienstag um 16.34 Uhr waren es schon 26 Autos. Notierte ich. Er fasst ungefähr 200, aber trotzdem wertete ich die Zahlen 22 und 26 als gutes Zeichen. Noch vor Kurzem standen dort höchstens vier Autos.

In vorpandemischer Zeit war der Parkplatz immer voll belegt. Man zahlt 25 Dollar für den Tag, abends muss man raus. Nachts liegt er daher friedlich und leer, eine ungenutzte Fläche in einer Gegend, in der jeder Quadratzentimeter Boden so viel kostet wie ein faustgroßes Goldnugget. 25 Dollar sind okay. Manche Parkhäuser werben damit, dass sie "nur acht Dollar (plus Steuern)" für 30 Minuten nehmen.

Der Parkplatz war so leer wie Wyoming. Selbst einparken durfte trotzdem niemand

In den Wochen der Quarantäne blickte ich viel auf diesen Parkplatz, und wenn alle paar Stunden ein Auto kam, das ich zählen konnte, war ich fast so aufgeregt wie die Parkplatzwächter, die das Gros ihrer Tage dösend in Klappstühlen verbrachten. Das Parken funktioniert so: Die Leute stellen ihr Auto an der Einfahrt ab, die Parkplatzwächter parken es. Das machten sie auch in den vergangenen Wochen so, obwohl in Anbetracht der Tatsache, dass der Platz so leer war wie Wyoming, niemand Hilfe beim Einparken brauchte. Ich schätze, es geht dabei ums Grundsätzliche, um eine Art Parkplatzwächterehre.

Seit ich positiv auf Antikörper getestet wurde, habe ich die Parkplatzbeobachtung weitgehend durch Spaziergänge ersetzt. Ich halte Abstand und trage eine Maske, aber ich laufe ohne Sorge. Es fühlt sich an, als wäre ich durch die Antikörper mit einer Superkraft ausgestattet, was insofern passend erscheint, als in Hell's Kitchen mehrere Superhelden wirken, zum Beispiel Daredevil, Jessica Jones oder der, wie sein Name andeutet, zur Brutalität neigende Punisher. Wenn ich nächtens von den lokalen Bars zurückkehrte und über diese besondere Konzentration verfügte, sah ich manchmal einen von ihnen auf der 9th Avenue ebenso rasch erscheinen wie verschwinden.

Entweder spaziere ich rauf zum Central Park und sehe dort nach dem Rechten, oder ich kontrolliere die Lage unten am Times Square, wo die Leuchtreklamen unbeirrt in die Leere blinken. Dann biege ich ein paarmal ab, schlage einige Haken, passiere eine Schrottbar namens Rudy's, die wohl frühestens Mitte Juni wieder aufmacht, und arbeite mich zurück in Richtung Norden. Schließlich überquere ich den Parkplatz und zähle die Autos.

Nachdem ich ihn am Mittwoch um 16.56 Uhr durchmessen hatte, hörte ich eine Stimme in meinem Kopf, die raunte: "Da geht er, festen Schrittes seiner Haustür entgegenstrebend, Hell's Kitchens neuer Superheld, der, wie sein Name andeutet, zur Pedanterie neigende Numerator." Auf dem Parkplatz standen zu diesem Zeitpunkt 32 Autos.

© SZ vom 30.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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