Hell's Kitchen (LXVIII):Bücher

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(Foto: N/A)

Unser Kolumnist in New York weiß, dass viele Familien seit Wochen am Rande des Nervenzusammenbruchs stehen. Für ihn selbst aber ist die Corona-Krise eine Phase der Einkehr, in der er sich fragt: Kann und soll man geliebte Bücher doppelt lesen?

Von Christian Zaschke

Wenn ich durch Buchläden streife, was neben zu langen Spaziergängen, Besuchen von Schrottbars und dem Verfassen von Western-Gedichten zu meinen Lieblingsbeschäftigungen zählt, zieht es meinen Blick bisweilen hin zu einem Buch, von dem ich noch nie gehört habe, und mein Gefühl sagt: Lies das! Ich vertraue diesem Gefühl unbedingt, und ich liege nicht oft, aber doch manchmal richtig. Eine der tollsten Entdeckungen, die ich auf diese Weise gemacht habe, ist der Roman "Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao" von Junot Díaz. Das Buch ist so wunderbar, dass ich ab der Hälfte anfing, es langsam und dann immer langsamer zu lesen, damit es nie zu Ende geht.

Meine Freundin B. aus Hamburg zettelt gerade eine Revolution an, weil sie sich von Stadt und Staat alleingelassen fühlt mit Kinderbetreuung, Homeschooling und Home-Office, und ich bin sicher, da sie eine ebenso energische wie kluge Person ist, dass ihre Initiative bald zum Umsturz der Verhältnisse führt und die Frauen die Macht übernehmen. Ich glaube das wirklich, aber hier meldet sich mein schlechtes Gewissen: Während für viele Eltern die Corona-Tage dauernden Stress und nicht selten Überforderung bedeuten, hatte ich noch nie so viel Zeit, noch mal grundlegend über alles nachzudenken. Für mich sind es Wochen der Einkehr.

Als Korrespondent in New York beginnt man, wegen der Zeitverschiebung, mit der Arbeit in der Regel kurz nachdem die Sonne aufgeht, und wenn die Arbeit am späteren Nachmittag getan ist, sitze ich derzeit bei fast jedem Wetter mindestens eine Stunde auf meinem Balkon und studiere den Himmel über Hell's Kitchen. Nach Abschluss der Studien lese ich.

Selbst wenn man regelmäßig liest, schafft man nur 3000 bis 5000 Bücher im Leben. Das ist eine deprimierende Zahl. Vor allen Dingen steht sie als ständige Mahnung im Raum, keinen Mist zu lesen. Bücher zweimal lesen? Undenkbar. Der Schriftsteller Arno Schmidt (von dem ich viel zu wenig gelesen habe) schrieb: "Sie haben einfach keine Zeit, Kitsch oder auch nur Durchschnittliches zu lesen: Sie schaffen in Ihrem Leben nicht einmal sämtliche Werke der Hochliteratur."

B. versucht gerade, neben Kinderbetreuung, Homeschooling und Weltrevolution noch irgendwie ihren zehnten Roman zu schreiben, was ihr Gehirn an manchen Tagen bis knapp vor die Kernschmelze treibt. Immer, wenn ich sage, dass es daher vermutlich ein eher intensives Buch werde, will sie mich erwürgen, und zwar langsam. Ich werde es trotzdem lesen.

Und der Díaz? Ein kleines bisschen kitschig ist es schon, das Buch, zugegeben. Vor allem aber ist es berührend und witzig und zart und albern und weise. Kurz dachte ich in dieser Woche an Arno Schmidt. Dann las ich die wundersame Geschichte des Oscar Wao zum zweiten Mal.

© SZ vom 16.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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