Hell's Kitchen (LX):Hibiskus

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Im vergangenen Herbst räumte unser Kolumnist seinen Balkon leer, weil der Hausmeister eine Renovierung in Aussicht gestellt hatte. Dann passierte dort monatelang gar nichts, abgesehen natürlich von diversen Winterstürmen. Doch jetzt kommt der Frühling.

Von Christian Zaschke

In dieser Woche hatten wir 21 Grad in Hell's Kitchen, was ich zum Anlass nahm, auf den Balkon zu gehen. Ich hatte das länger nicht gemacht, obwohl ich es liebe, auf den Balkon zu gehen und die unendlichen Blautöne des New Yorker Himmels anzuschauen. Aber der Balkon bereitete mir zuletzt schlechte Laune. Der Gasgrill liegt umgestürzt, dem Kohlegrill fehlt der Deckel. Stühle, Tische, Blumentöpfe, überall verstreut, größtenteils kaputt. Es ist ein Desaster, und ausnahmsweise bin ich nicht mal zur Hälfte schuld.

Die Sache ist die: Im Herbst hatte unser Hausmeister Giovanni Colon angekündigt, dass der Balkon renoviert werde und ich daher bitte sämtliche Pflanzen, Möbel, Grills und den Sonnenschirm umgehend wegräumen solle. Wobei, "bitte" hat er nicht gesagt, wenn ich mich recht entsinne.

Mein Balkon war eine Oase. Eine mit welliger Teerpappe ausgelegte Freifläche, auf der ich einen Garten angelegt hatte. Ich zog, wie ich womöglich erwähnte, Tomaten, Chilis, Bohnen, Erbsen, Zucchini, außerdem stand dort ein Hibiskus, der Blüten hervorbrachte und abwarf, als fast manisches Symbol des Werdens und Vergehens.

Nach Giovannis Ankündigung räumte ich alles vom Balkon in die Wohnung. Zwei, drei Tage lang ist das okay, dachte ich. Als nach einer Woche nichts passierte, spannte ich, um irgendwas zu tun, den Sonnenschirm im Wohnzimmer auf. Als auch nach zwei Wochen nichts geschah, ahnte ich, dass diese Balkonrenovierung wohl niemals stattfinden würde, also räumte ich nach und nach alles zurück nach draußen, die Möbel, die Grills, auch den Sonnenschirm, aber ich machte nichts winterfest, weil ich nicht vollkommen ausschließen konnte, dass es doch bald mit der Renovierung losgehen würde. Dann kam der erste Sturm.

Winterstürme sind in New York normal, aber dieser überraschte mich. Er fällte den Gasgrill wie einen jungen Baum, der sich gewünscht hatte, noch ewig zu leben. Er riss am Mobiliar. Der zweite Sturm wehte den Deckel des Kohlegrills ins Viertel, und er nahm sich der tönernen Blumentöpfe an. Was der dritte Sturm im Detail anrichtete, habe ich mir nicht mehr angesehen. Ich wusste, fast alles, was ich rausgeräumt hatte, war kaputt oder verloren. Der Balkon war tot. Zum Glück hatte ich nicht alle Pflanzen rausgestellt. Vor allen Dingen hatte ich den Hibiskus nicht rausgestellt.

Als ich in dieser Woche auf den verwüsteten Balkon trat, blickte ich auf die Blautöne des New Yorker Himmels. Ich steckte mir eine Zigarette an und rauchte vor mich hin. Mein Blick schweifte nach links zum Hudson, nach rechts auf dreiviertelfertige Hochhäuser. Schließlich zurück nach drinnen, und als ich sah, dass der Hibiskus die erste Blüte des Frühlings hervorgebracht hatte, beschloss ich, nein, verstand ich, dass es Zeit war, den Balkon wieder zum Leben zu erwecken.

© SZ vom 14.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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