Gespräch über Magersucht im Alter:Von der Gier nach dem Mangel

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Junge Mädchen hungern sich oft auf Haut und Knochen herunter, weil in einem bestimmten Alter manchmal nur noch das Dünn-Sein zählt. Doch was passiert, wenn eine Mittvierzigerin dasselbe macht? Martina de Zwaan, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Essstörungen, spricht im Interview über magersüchtige Frauen mittleren Alters, die in ein altes Verhalten zurück fallen, um eine neue Leere zu füllen.

Sophia Lindsey

Hervorstehende Knochen unter einer Haut, die so dünn und rissig wirkt wie zerknittertes Papier: Abgemagert erschien Suzy Amis, Ehefrau des Regisseurs James Cameron und ehemaliges Topmodel, zur Premiere von "Titanic 3D". Erst wenige Monate zuvor schockte Schauspielerin Demi Moore mit ähnlichen Bildern. Moore ist 49 Jahre alt, Amis ein Jahr älter. Aber magersüchtig sind doch nur junge Mädchen - oder? Ein Gespräch mit Martina de Zwaan, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Essstörungen.

Nur noch Haut und Knochen: Ex-Topmodel Suzy Amis bei der Premiere von "Titanic 3D". (Foto: AP)

Süddeutsche.de: Frau de Zwaan, gibt es Magersucht im Alter?

Martina de Zwaan: Es gibt viele Magersüchtige, die vierzig, fünfzig sind und es gibt sicher auch welche, die sechzig sind. Es ist nur selten oder faktisch nie so, dass die Magersucht erst in diesem Alter entsteht.

Süddeutsche.de: Wenn man sich eine Magersüchtige vorstellt, denkt man an ein junges Mädchen.

de Zwaan: Die große Gruppe der Essgestörten ist natürlich jung, da die Magersucht in diesem Alter beginnt. Viele werden gesund, einige nicht. Andere bekommen später einen Rückfall. Es ist nicht unwichtig, sich auch mal zu fragen: Was passiert denn mit diesen jungen Mädchen, wenn sie vierzig oder fünfzig sind? Ich kenne viele, die dann wieder in ihr altes Verhalten zurückfallen. Man vergisst immer, dass diese jungen Mädchen auch alle älter werden und immer noch Probleme haben - oder wieder.

Süddeutsche.de: Warum erleiden diese Frauen gerade im mittleren Alter einen Rückfall?

de Zwaan: Sehr häufig ist ein einschneidendes Lebensereignis der Auslöser, der dazu führt, dass die Betroffenen ihr Essen wieder sehr stark kontrollieren. Essen einschränken hat immer etwas mit Kontrolle zu tun: Ich habe Kontrolle über mein Essen und mich, wenn ich schon über das Leben sonst und über die Dinge, die um mich herum passieren, keine Kontrolle habe.

Süddeutsche.de: Welche Ereignisse können das sein?

de Zwaan: Das sind zum Beispiel familiäre Probleme, Eheprobleme, Scheidung oder der Auszug der Kinder von zu Hause. Man hat Sorgen, wie es mit den Kindern weiter geht. Man ist damit beschäftigt, die Familie zusammen zu halten und merkt dann oft, dass das nicht klappt. Vielleicht zieht sich auch der Mann zurück oder hat eine Freundin.

Süddeutsche.de: Die meisten Rückfälligen waren also schon einmal in Therapie und wissen um ihre Krankheit. Warum fallen sie dennoch in alte Verhaltensmuster zurück?

de Zwaan: Oft ist es so, dass sie einfach keine andere Erlösungsstrategie für ihre Probleme kennen. Sie haben bereits die Erfahrung gemacht, dass dieses Verhalten ihnen helfen kann in Zeiten der inneren, psychischen Not. Wenn man sehr unter Druck gerät, greift man auf Altbewährtes zurück. Die Frage ist auch immer: War die Magersucht jemals ganz weg? War dieser Wunsch, weniger zu essen, wirklich weg? Hatten sie ein wirklich völlig normales Verhältnis zum Essen, zu ihrem Körper, zu ihrem Gewicht?

Süddeutsche.de: Und das ist meistens nicht der Fall?

de Zwaan: Oft ist die Essstörung nur in den Hintergrund gerückt, weil andere Dinge im Leben wichtig waren, wie zum Beispiel eine Familie zu gründen oder im Job Karriere zu machen. Aber sie ist noch da und hat das Potenzial, wieder an die Oberfläche zu kommen, wenn es Schwierigkeiten gibt. Das ist bei vielen psychischen Erkrankungen so. Denken Sie an Alkohol: Einmal Alkoholiker, immer Alkoholiker, auch wenn man trocken ist.

Süddeutsche.de: Amerikanische Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang von einem "Desperate Housewives"-Syndrom. Die Medien leben nicht mehr nur jüngeren Menschen ein unerreichbares Ideal vor, auch Ältere werden mit der Rolle der perfekten, begehrenswerten Frau konfrontiert, die in der Realität unmöglich zu erfüllen ist.

de Zwaan: Das kann natürlich eine Rolle spielen. Hier werden Mittvierzigerinnen präsentiert, die ein Liebesleben haben und umschwärmt werden. Frauen, die blendend aussehen, toll gekleidet sind, Geld haben.

Süddeutsche.de: Und dadurch wird auf die Frauen Druck ausgeübt?

de Zwaan: Das hat möglicherweise auch etwas mit der heutigen Zeit zu tun. Früher hat man mit fünfzig ausgesehen wie eine Oma. Heute leben wir länger, bleiben länger fit und erhalten unsere Jugendlichkeit bis ins Alter. Es kann sein, dass sich die Krankheit dadurch ein Stück weit nach hinten verlagert.

Süddeutsche.de: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der hormonellen Umstellung in den Wechseljahren und der wieder auftauchenden Magersucht?

de Zwaan: Das ist eher unwahrscheinlich. Es kann aber sein, dass die mit dem Altwerden verbundenen Veränderungen des eigenen Körpers der Auslöser sind. Man wird älter, ist vielleicht nicht mehr so attraktiv. Das spielt für Leute eine Rolle, für die ihr Aussehen selbstwertstabilisierend war. Demi Moore zum Beispiel hat immer wahnsinnig viel Wert auf ihr Aussehen gelegt und, soweit ich weiß, extrem viel Sport getrieben. Man muss aber dazu sagen: Wenn man magersüchtig wird, hat das nichts mehr mit gutem Aussehen zu tun. Da ist man nicht schön. Wenn man alt ist und eine Anorexie hat, ist man eigentlich hässlich. Viel hässlicher als jemand, der ein bisschen rundlicher ist.

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