Kolumne: Vor Gericht:Wenn der Richter mal rasch eine Geldstrafe ausrechnet

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Zu den unberechenbarsten Phänomenen des deutschen Rechtswesens zählt der sogenannte Tagessatz. Wie die Richterinnen und Richter auf die Höhe der Geldstrafe kommen, bleibt allzu oft ein Rätsel.

Von Ronen Steinke

Strafurteile in Deutschland beginnen immer klangvoll, mit den Worten "Im Namen des Volkes". Und sie enden in mehr als 80 Prozent der Fälle ganz prosaisch. Mit einer Rechnung. Es geht um Euro und Cent, damit die Sache abgehakt werden kann, es folgt ein Blatt mit einer Rechnungsnummer ("bitte immer angeben"), eine Kontoverbindung der Justizkasse des Bundeslandes, und nicht vergessen: "Sie werden darauf hingewiesen, dass bei Nichtzahlung eine Mahngebühr fällig wird."

Das ist heute die mit Abstand häufigste Form der Strafe. Geld. Zugleich ist es die rätselhafteste. Wieso verlangt das Gericht eine bestimmte Summe? Das bekommt man oft nicht so recht erklärt, wenn man als Angeklagter vor Gericht sitzt. So wie zum Beispiel neulich ein junger Ukrainer. Er saß auf dem Stuhl für Angeklagte. Gerichtssaal 0202, Berlin-Tempelhof. Ein Diebstahl-Wiederholungstäter. Er trug ein Sweatshirt und hatte einen kahl rasierten Kopf. Und er bemühte sich zu folgen.

Man versteht hier nicht immer alles, selbst wenn man kopfrechnen kann

Bei seinem letzten Prozess, ein paar Wochen zuvor, hatte er eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen bekommen. So werden in Deutschland die Geldstrafen bemessen. Die Regeln sind so: Ein Tagessatz ist das Netto-Einkommen, das man an einem Tag durchschnittlich hat. Das wird vom Gericht meist geschätzt. Im Fall des Ukrainers hatte das Gericht damals geschätzt: 15 Euro pro Tag. Dann folgte eine Multiplikation: 30 mal 15. So weit, so einfach. So ist die Geldstrafe entstanden - 450 Euro.

Und jetzt? Der Richter fokussierte den Ukrainer streng. Diesmal, so sagte der Richter, müsse der Angeklagte sich auf eine höhere Strafe gefasst machen! Wegen der Wiederholung. Der Ukrainer guckte betreten. Vielleicht war er verängstigt. Der Richter fuhr fort: Der Ukrainer solle froh sein, dass er überhaupt noch eine Geldstrafe bekomme! Schließlich sei bei Diebstählen auch schon eine Haftstrafe möglich! Dann verhängte er die Strafe: 50 Tagessätze. Uff. Das ist viel. Aber er fügt hinzu: "...à fünf Euro".

Hä? Das muss man erst einmal verstehen. 50 mal 5. Das ergibt: nur 250 Euro. Das ist deutlich weniger als beim letzten Mal. Von wegen: höhere Strafe, würde der Ukrainer jetzt vielleicht denken - wenn ihm denn jemand erklären würde, was da überhaupt gerade entschieden worden ist. Das tat aber niemand. Der Ukrainer schaute den Richter an. Der sagte nichts. Es blieb dabei: Niemand im Saal sprach die Worte "250 Euro" aus. Man musste sich schon mit den Gesetzen auskennen, und dann musst man im Kopf multiplizieren.

Der Richter schärfte dem Ukrainer noch ein, nicht noch mal zu stehlen, sonst werde die Strafe beim nächsten Mal NOCH empfindlicher steigen. Es herrschte ein Moment der Stille. Eine letzte Frage des Richters, an den Verurteilten: Ob er das Urteil schriftlich haben wolle, übersetzt ins Ukrainische? Wieder Stille. Der Ukrainer schüttelte den Kopf. "Brauche ich nicht", sagte er, immer noch sehr gespannt. "Ich brauche nur die Summe und die Kontoverbindung."

Kolumne: Vor Gericht: An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten.

(Foto: Bernd Schifferdecker)
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