Frühförderung von Kindern:Kaderschmiede Krabbelgruppe

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Chinesisch mit drei, Geige mit vier und Astronomie mit fünf - die umstrittene Frühförderung von Kindern.

Titus Arnu

Helen zerknüllt ein Stück weißen Stoff in ihrer Hand. "Make it small", sagt sie. "Mpf!" meint Nikos dazu. "We need some string", schlägt Helen nun vor. Mit einer Schnur formt die Erzieherin das Knäuel zu einer Art Geist und ruft fröhlich: "Good Job! Nikos, do you know what this is?" "Hm? Wau!", macht Nikos. Der 15 Monate alte Junge kann sich nicht so richtig auf den Stoffgeist konzentrieren, denn sein Kollege Finn aus der "Mäusegruppe" von nebenan ist zu Besuch gekommen, und er hat seinen Stoffhund mitgebracht.

Es gibt ein gesteigertes Bedürfnis mancher Eltern nach Frühförderung. Denn talentierter Nachwuchs mit Fremdsprachenkenntnissen ist auf dem Arbeitsmarkt von morgen begehrt. (Foto: Foto: iStock)

Ein Zimmer weiter wühlen Dreijährige in einem Monsterkürbis herum. "Here comes the eye", sagt die englischsprachige Erzieherin, während sie ein dreieckiges Auge aus dem Kürbis heraus sticht. "Ei! Ei!" pflichten die Kinder bei. Finn möchte seinen Hund gerne in den ausgehöhlten Kürbis werfen, aber ein Mädchen mit Wuschellocken vereitelt den Plan, indem sie fast komplett in den Hohlkopf kriecht.

Es ist ein typischer Vormittag bei den Little Giants in Stuttgart, einer privaten, bilingualen Kindertagesstätte. Wer hier eincheckt, wird schon im Alter von acht Wochen auf Englisch und Deutsch angesprochen - in Stereo: Eine Erzieherin pro Gruppe redet englisch, eine deutsch. Manche Kinder, die in die Krippe mit angeschlossenem Kindergarten gehen, wachsen zu Hause sogar drei-, vier- oder fünfsprachig auf. In der Kürbisbaggergruppe ist einer, der außer Deutsch und Englisch auch Rumänisch und Hawaiianisch lernt.

Spielerisch bringen die Erzieherinnen den Kleinkindern bei, mit Zahlen und Mengen umzugehen, zusätzlich gibt es Ballettunterricht, Klavierstunden und Karate im Angebot. Über Bewertungsbögen und ausführliche Tagesberichte können die Eltern den Entwicklungsstand kontrollieren - und rechtzeitig erkennen, ob eine besondere Begabung vorliegt.

Kleine Riesen

"Kinder sind für uns das Größte und Wichtigste, was es gibt", sagt Jelena Wahler, die Betreiberin der Privat-Kita, "das wollten wir auch mit dem Namen ,Little Giants', kleine Riesen, ausdrücken." Die Krippe gründete sie mit ihrem Mann Peter. Die Familie kam 2002 nach einem längeren Aufenthalt in den USA nach Deutschland zurück. Für ihren Sohn Daniel fand Jelena Wahler keine Ganztagsbetreuung in Stuttgart, die sie für geeignet hielt. "In den USA war die Betreuung nicht bloße Aufbewahrung, bereits Kleinkinder wurden spielerisch gefördert", so die Unternehmerin. Sie nutzte ihre Erfahrungen aus Amerika, baute deutsche Bildungspläne und das Prinzip der Bilingualität ein. Das Konzept kommt an, mittlerweile haben die Wahlers Filialen in Frankfurt, München und Nürnberg eröffnet, weitere folgen. Jelena und Peter Wahler arbeiten nicht mehr in ihren alten Berufen als Ingenieure, sondern als Geschäftsführer ihrer Kita-GmbH Giant Leap.

Es gibt offenbar einen wachsenden Markt für privat organisierte Betreuung von Kleinkindern in Deutschland - und ein gesteigertes Bedürfnis mancher Eltern nach Frühförderung. Denn talentierter Nachwuchs mit Fremdsprachenkenntnissen ist auf dem Arbeitsmarkt von morgen begehrt. Diese Entwicklung motiviert viele Eltern, für ihre Kinder einen Platz in einer zweisprachigen Kita zu ergattern.

Noch sind sie rar, nur 600 von 50.000 Betreuungsstätten in Deutschland sind zweisprachig. Früher waren es vorrangig Kinder von ausländischen Managern und Diplomaten, die bilinguale Kindergärten nutzten, jetzt hat sich der Trend ausgeweitet, auch deutsche Familien werden immer häufiger in solchen Einrichtungen vorstellig. Das kostet: Je nach Dauer der Betreuung und Alter des Kindes sind bei den Little Giants 4000 bis 13.000 Euro im Jahr fällig, Essen und Windeln inklusive.

Der Andrang auf die kosmopolitischen Krabbelgruppen ist groß, nicht nur bei den Little Giants gibt es Wartelisten. Auch bei der deutsch-chinesischen Kita im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, in der Kleinkinder Mandarin lernen, gibt es mehr Anfragen als Plätze. In der Potsdamer Edelkita "Villa Ritz" kann der Nachwuchs ebenso Chinesisch lernen; Ballettsaal, Musikraum und Wellness-Abteilung gehören zur Ausstattung.

Kosten pro Kind und Monat: bis zu 1000 Euro. Die britische Franchise-Firma Helen Doron bietet Englischkurse und Mathematik für Kinder im Vorschulalter an, etwa 80 dieser kommerziellen Schulen gibt es bereits in Deutschland. Auch die japanische Privatschulkette Kumon wächst stark, in mittlerweile 180 Lerncentern pauken Vorschulkinder hierzulande Mathe.

Gefährlicher Drill oder wertvolle Chance?

Ist so eine Erziehung gefährlicher Drill oder eine wertvolle Chance, die Eltern auf keinen Fall verpassen sollten? Seit die privaten Bildungseinrichtungen für Babys in Mode gekommen sind, ist in der Öffentlichkeit ein Streit über den Sinn der Frühförderung entbrannt. Wolfgang Bergmann, Leiter des Instituts für Kinderpsychologie und Lerntherapie in Hannover, hält "Elitekindergärten vom Konzept Little Giants" für einen "Skandal". Die Kinder lernten in solchen Einrichtungen vor allem das Rivalisieren. Wassilios Fthenakis, Professor für Entwicklungspsychologie an der Freien Universität Bozen, ist zurückhaltender. Er beschäftigt sich seit Jahren mit der Frühförderung und verteufelt sie nicht generell, warnt aber davor, Kinder zu überfordern: "Nicht die Vermittlung von Wissen steht im Vordergrund, sondern die Stärkung kindlicher Entwicklung und Kompetenzen."

Manche Frühförderfirmen werben dennoch aggressiv mit der Optimierung der Karrierechancen schon im Windelalter. "Einen Wissens- und Erfahrungsvorsprung für die gesamte spätere Schullaufbahn" verspricht Fastrackids, eine US-Kette, die weltweit Kleinkinderschulen betreibt.

Lebensstrategie für Babys

Zwei- bis Neunjährige absolvieren bei den Fastrackids einen beeindruckenden Stundenplan, der an die Oberstufe des Gymnasiums erinnert: Astronomie, Ökonomie, Literatur, außerdem das Fach "Lebensstrategien". In Experimenten simulieren die Kinder zum Beispiel einen Vulkanausbruch. Bei den Kleinkindern sollen, so heißt es in den Zielvorgaben der Firma, "versteckte Potentiale aktiviert" und das Gehirn des Kindes "zur maximalen Kapazität angeregt" werden. Klassische Musik im Hintergrund soll zusätzlich für einen "Mozart-Effekt" sorgen.

Anbieter wie Fastrackids verweisen gern auf die Hirnforschung, sprechen von "kinesiologischen Aktivitäten", Synapsenvernetzung und Zeitfenstern, die sich bei Kindern schließen und genutzt werden sollten. Viele Eltern glauben daran. "Alles Quatsch", sagt dagegen der Hirnforscher Manfred Spitzer aus Ulm.

Genau das Gegenteil sei der Fall: Werden die Babys mit Lernprogrammen und elektronischen Medien überflutet, behindere das ihre geistige Entwicklung. Babys lernen ganzheitlich, das wird durch neue Erkenntnisse aus der Hirnforschung bestätigt.Eine US-Studie mit 1000 Familien hat ergeben, dass Kinder, denen viel vorgelesen wird, acht Prozent mehr Wörter kennen als der Durchschnitt. Kinder, die regelmäßig Baby-TV oder Baby-DVDs schauen, dagegen 20 Prozent weniger.

Besuch beim Metzger

Einig sind sich die Erziehungswissenschaftler darin, dass man Kleinkindern kein Wissen per Frontalunterricht eintrichtern kann, da sie spielerisch und intuitiv lernen. "Unser Programm soll nicht so hochtrabend sein", sagt denn auch Jelena Wahler von den Little Giants in Stuttgart, "wir finden es wichtiger, dass die Kinder im Park spazieren gehen oder beim Metzger sehen, wie man Maultaschen macht und dies auch selbst ausprobieren, als dass sie mit drei einen Vortrag über Astronomie hören." Englisch lernen schon die Wickelkinder in der Krippe, allerdings eher nebenbei. Kinder erwerben eine zweite Sprache nur dann gut, bestätigt Henning Scheich, Professor für Neurobiologie am Leibniz-Institut in Magdeburg, wenn sie in der Familie gesprochen wird oder von muttersprachlichen Erziehern in der Kindertagesstätte.

Erzieherin Helen Broom spricht bei den Little Giants deshalb nur englisch. Wenn ein Kind auf Deutsch antwortet, tut sie so, als hätte sie Englisch gehört. Beim Kürbis-Aushöhlen ist das kein Problem. "Use your hands!" sagt sie, und ein mit Kürbismus besudelter Junge antwortet: "Nö, mit'm Löffel." Finn sagt nichts, er muss nun dringend seinen Stoffhund in Sicherheit bringen vor dem Kürbismatsch, den die kleinen Riesen herumspritzen. Finn und sein bester Kumpel, der Hund, kommen prima zurecht mit der Zweisprachigkeit. Sie verstehen sich ohne Worte.

© SZ vom 31.10.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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