Mein Sohn ist 42 Jahre alt und lässt sich gerade ein großes Tattoo auf den Arm stechen. Als er mich fragte, wie ich das finde, antwortete ich wahrheitsgemäß: unmöglich. Darüber war er sehr enttäuscht. Wie soll ich mich jetzt verhalten? War ich zu ehrlich? Rolf T., Müllheim
Margit Auer:
"Werde endlich erwachsen!", möchte man dem 42-jährigen Sohn zurufen. Was hat er erwartet? Lob und Preis für seine mutige Tat? Ich frage mich, auf welch wackeligen Beinen er durchs Leben geht, wenn ihn schon die ehrliche Antwort seines Vaters "enttäuscht". Schafft er es nicht, zu seiner Entscheidung zu stehen, die, nun ja, so weltbewegend auch wieder nicht ist? Ein bisschen muss ich allerdings auch Ihnen ins Gewissen reden: Wie konnte es so weit kommen, dass Ihr Sohn mit 42 Jahren immer noch um Ihre Anerkennung buhlt? Irgendwie dachte ich, dass das Thema nach der Pubertät erledigt ist und man danach auf Augenhöhe miteinander umgeht. Sie kennen Ihren Sohn am allerbesten - da Sie wissen, wie er tickt, hätte ich meine Ablehnung diplomatischer formuliert. Sie dürfen lachen, streiten, über das Motiv diskutieren - das hätte ich besser gefunden. "Unmöglich" ist eine Antwort, die jedes Gespräch abwürgt. Wären Sie bei einem guten Freund auch so schroff gewesen?
Herbert Renz-Polster:
Ja, das ist von beiden Seiten verständlich, das ästhetische Empfinden bezüglich Hautoberfläche hat sich ja im Laufe von nur einer Generation tiefporig verändert. Konflikte sind also programmiert - die "Langhaarigen" aus den 60er-Jahren und die Ohrring tragenden Männer aus den 80er-Jahren lassen grüßen. Also müsste einem schon ein echtes Kunstwerk gelingen, um da über den eigenen Schatten zu springen. Dieser Sprung dürfte ein paar Anläufe brauchen und eher nicht auf Anhieb gelingen, sondern vielleicht eher im Nachgang. Denn warum sollten Sie im ersten Moment nicht ehrlich sein und sich stattdessen an einer Lüge abquälen? Aber genauso: Warum sollten Sie nicht dann auch dafür sorgen, dass Ihr Sohn Ihre Meinung nicht als persönliche Entwertung begreift? Ich denke, darüber lässt sich reden. Wir alle haben unsere Prägungen. Das sind meist Reflexe und haben doch einen Grund. Tattoos waren in Ihrer Jugend die Kennzeichen von Randgruppen, von Zuhältern, Gefängnisinsassen und Drogenabhängigen, heute sind es Mode-Accessoires. Dass Sie dieser Schritt ein bisschen schwindelig macht, wird Ihr Sohn verstehen können. Man muss nur drüber reden und vermitteln können, dass man sich trotzdem "gut" ist.
Collien Ulmen-Fernandes:
Lieber Rolf, ein altes Sprichwort lautet: Für ein fürchterliches Tattoo ist es immer zu früh, aber niemals zu spät - oder so ähnlich. Was ich damit sagen will? Jede und jeder muss im Laufe seines Lebens immer wieder selbst entscheiden, wann der richtige Zeitpunkt für eine wirklich schlechte Entscheidung gekommen ist. Das gilt für die Liebe, die Berufswahl und eben ziemlich häufig auch für das Thema Tätowierungen. Diese Entscheidungen mal gut und mal schlecht zu treffen, nennt man Erwachsenwerden, und auch mit 42 Jahren hat man ganz offensichtlich noch alle Möglichkeiten, weitreichende Fehler zu begehen. So wie es das gute Recht Ihres Sohnes ist, diese Entscheidungen selbst zu treffen und zu verantworten, und Sie ihm das nicht verbieten können, so ist es aber - finde ich - wiederum auch IHR gutes Recht das Tattoo unmöglich zu finden und das auch ganz genau so zu äußern.