Familie und Partnerschaft:Familiengeist

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Wie sehr prägt uns die eigene Herkunft? Die Diplomatentochter Julie von Kessel hat einen Generationen-Roman geschrieben. Ihre Schwester liest ihn.

Von Christian Mayer

Es gibt in fast jeder Familie so etwas wie einen Geist, eine große Erzählung, die aus vielen Einzelbildern besteht, Bruchstücken der Vergangenheit. Man muss nur für einen Moment die Augen schließen, dann kann das Kopfkino beginnen. "Erinnerung, sprich" hat Vladimir Nabokov, ein großer Geisterbeschwörer, diese Methode genannt, sich konzentriert auf Zeitreise zu begeben, den fast verklungenen Stimmen zu lauschen. Auf einmal begegnen uns die längst verstorbenen Großeltern wieder, der unvergessliche Onkel aus Berlin, die Mutter, die leider nicht mehr da ist. Wie präsent sie noch sind, stellt man spätestens beim Blick ins Familienalbum mit den verblichenen Farbfotos fest. Unverkennbar, die Ähnlichkeiten.

Dieser Familiengeist ist auch das große Thema in Julie von Kessels Roman "Altenstein". Erzählt wird die Geschichte der Adelsfamilie von Kolberg von den Wirren der letzten Kriegswochen in Ostpreußen bis ins Jahr 2005. Im Winter 1944/45 geht es ums nackte Überleben, und wenn man, wie die Mutter im Roman, gleich zehn Kinder aus drei Ehen allein durchfüttern muss, dann ist es mit Liebe und Fürsorge nicht getan. Dann muss man hart zu sich selbst und zu den anderen sein. Agnes von Kolberg, die Gräfin, ist die Bezugsperson - eine unheimliche Macht geht von ihr aus, der sich ihre Kinder selbst in fortgeschrittenem Alter nicht entziehen können.

Eine Art Familientreffen ist auch die Begegnung mit der Autorin im Restaurant Kulisse in der Münchner Maximilianstraße: Julie von Kessel, 44, hat ihre vier Monate alte Tochter und ihre Schwester mitgebracht, die beiden wirken sehr vertraut, im Gespräch antworten sie im Wechselspiel. Schwester Sophie, 48, spielt am Residenztheater schräg gegenüber. Den Roman habe sie drei, vier Mal gelesen, bevor sie dann als Sprecherin für das Hörbuch ins Studio ging, sagt sie. Sehr praktisch, wenn man eine Schauspielerin in der Familie hat.

"Ich wollte nie mit in die schlesische Vergangenheit reisen - diese Form der romantischen Verklärung war mir fremd."

Einen Sinn für Dialoge und Szenen bringt die Autorin selbst mit. Julie von Kessel, Mutter von drei Kindern, arbeitet seit Langem als Fernsehjournalistin fürs ZDF. Am 11. September 2001 berichtete sie live aus New York, der Stadt, in der sie auch ihren Mann kennenlernte, den Schriftsteller Ralph Martin. Dass aus "Altenstein" nun bald auch ein Film wird, erscheint bei diesem Hintergrund geradezu zwangsläufig; die Ufa, die rasend gerne Stoffe aus der deutschen Geschichte verfilmt, hat sich eine Option auf die Filmrechte gesichert.

Als Leser kommen einem die Kolbergs merkwürdig vertraut vor, selbst wenn die eigene Großmutter keine Gräfin war. Man braucht nicht allzu viel Fantasie, weil man die Typen und Konflikte schon erlebt hat. Die Kämpfe zwischen Geschwistern und Halbgeschwistern, das Gerangel um die Liebe der Mutter, die Eskapaden untreuer Männer, der erbitterte Streit ums Erbe - die Autorin weiß, wo die wunden Punkte liegen. "Mir ging es darum zu zeigen, wie die Familie dich prägt, wie sie dich einschränkt", sagt Julie von Kessel. Man bekommt eben eine Rolle zugewiesen, und die spielt man, selbst wenn man längst erwachsen ist. "Als Jüngste bei uns zu Hause war ich immer die Chaotin, die immer den Schlüssel vergisst - das Image bleibt."

Unzertrennlich: Julie von Kessel (rechts) und ihre große Schwester, die Schauspielerin Sophie von Kessel. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Die Geschichte der Kolbergs ist natürlich nicht die Geschichte der Kessels. Doch es gibt Parallelen zwischen Roman und Realität. Da ist etwa die Figur der Großmutter, die von allen verehrt wird, gerade weil sie so unnahbar ist. Im Roman spielt Agnes ihre Rolle als Grande Dame auch nach ihrer Übersiedlung in den Westen mit Grandezza weiter, obwohl die Familie jetzt in bescheidenen Verhältnissen lebt. Einmal Gräfin, immer Gräfin, auch in der Bundesrepublik. Agnes steht für eine Generation deutscher Frauen, die zwischen Krieg, Zerstörung und Wirtschaftswunder so viel schaffen mussten, dass nie Zeit für eine intensive Selbstbefragung war, nicht mal für eine Aussprache. Das Leben als Krisenmanagerin ließ keine Zeit für therapeutische Gespräche.

Im wahren Leben hatten die Kessel-Schwestern auch eine legendäre Großmutter, mütterlicherseits. Esther Gräfin von Schwerin, die ebenfalls aus Ostpreußen stammte und bei Familienfesten 36 Enkelkinder um sich scharen konnte. "Sie war schon eine Autorität, sehr religiös, sehr selbstbewusst", erzählt Julie von Kessel. Ihr Roman beginnt dort, wo das Leben, wie es ihre Großmutter kannte, endete: Bei der Zerstörung der alten Welt durch das nationalsozialistische Deutschland, der Verwüstung der Stadt Königsberg, der Flucht vor den Russen in den Westen.

Diese untergangene Welt der Großmutter hat Julie von Kessels Familie auch im echten Leben nie ganz losgelassen. Die Autorin erinnert sich an die Sehnsucht des Vaters nach der verlorenen Heimat seiner Eltern und Großeltern. "Er ist ja immer wieder nach Zöbelwitz in Polen gefahren." Die Kessels besaßen vor dem Krieg dort ein Schlösschen. Die Autorin selbst ist eher unsentimental: "Ich wollte nie in die schlesische Vergangenheit reisen, diese Form der romantischen Verklärung war mir fremd."

Stattdessen hat sie nun in "Altenstein" eine Romanfigur geschaffen, die sich ebenfalls nach der Vergangenheit verzehrt: Konrad, ein passionierter Jäger und Glücksritter. Er ist dem Familiengeist auf der Spur ist und legt großen Wert auf seine adlige Herkunft. Nach der Wende zieht es ihn in die blühenden Landschaften der neuen Länder. Der jüngste Sohn der Matriarchin Agnes will mit Hilfe von Investoren den väterlichen Besitz zurückerobern. Leider hat er kein Gespür dafür, wie lächerlich es ist, wenn man den Grafen heraushängen lässt, aber außer einer schicken Visitenkarte und einem Sportwagen nichts zu bieten hat. Altenstein, die einstige Sommerresidenz der Kolbergs, wird zur fixen Idee, zum Zankapfel einer zerrissenen Familie.

Die eigene Kindheit war für Julie von Kessel eher ein Abenteuer. Statt blühender Landschaften lernte sie fremde Länder kennen. Der Vater, Immo von Kessel, arbeitete im Diplomatischen Dienst. Das bedeutete: alle drei Jahre umziehen. Jugoslawien, Mexiko, Finnland, Ägypten, Dominikanische Republik. Diplomaten wohnen dann ja oft mit ihren Familien in eigenen Vierteln, abgeschottet von der sozialen Wirklichkeit. An solchen Orten wächst manchmal das Verlangen, sich mit der eigenen Vergangenheit zu beschäftigen und sich zu fragen, wer man eigentlich ist. Und woher man kommt.

Auch der Roman "Altenstein" (Kindler-Verlag) ist Familiensache, schließlich hat Sophie von Kessel das Hörbuch gesprochen. (Foto: privat)

Als Diplomat musste der Vater auch präsent sein, als dieser seltsame Sänger in der Dominikanischen Republik heiraten wollte. Er hieß Falco

"Man ist schon sehr auf die eigene Familie zurückgeworfen, wenn man so aufwächst", erzählt Sophie von Kessel. Sie erinnert sich noch gut, dass ihr Vater jeden Abend Briefe schrieb, nach dem Essen. Briefe an die Heimat, die seine Kinder gar nicht vermissen konnten: Sie waren schließlich überall zu Hause, auch wenn es nicht überall Gummibärchen und deutsches Brot gab.

Julie von Kessel muss lachen, wenn sie an die Falco-Episode denkt. Wie ihr Vater als deutscher Botschafter in der Dominikanischen Republik einmal nach Hause kam und erzählte, dass es da einen österreichischen Popstar gebe, der unbedingt unter Palmen heiraten wolle, was selbstverständlich auch die Anwesenheit von Honoratioren wie dem deutschen Botschafter erfordere. Der Botschafter Immo von Kessel wusste zwar nicht wirklich, wer das war, dieser Herr Falco, aber er fand die Vorstellung amüsant, mitten in der Karibik auf den Adel der Gegenwart zu treffen. "Mein Vater war ja enorm förmlich, immer mit Anzug und Krawatte, auch nach seiner Pensionierung. Ein Adliger mit Siegelring eben." Am Ende stand er wie aus dem Ei gepellt am Strand, nur vom Bräutigam fehlte jede Spur, Falco war einfach abgetaucht.

Erinnerungen. Inzwischen sind die Eltern gestorben, erst der Vater, der nach einem Schlaganfall von der ältesten Tochter Annabel gepflegt wurde, dann die krebskranke Mutter, die als Kinder- und Jugendpsychologin gearbeitet hatte. Julie von Kessel weiß jetzt, "wie viel Zeit und Energie ins Sterben geht und wie wichtig es ist, Abschied nehmen zu können".

Ein wenig von dieser Erfahrung ist auch im Roman zu spüren, vor allem in den Kapiteln über Konrad. Er scheitert an der ewigen Frage seiner Mutter: "Was hast du heute schon für deine Unsterblichkeit getan?" Als Leser begleitet man den krebskranken Konrad bis zum Schluss, in ein Berliner Krankenhaus und auf seiner allerletzten, eher komischen Reise, die nach Altenstein führt, und man ist ganz froh über den lakonischen Erzählton der Autorin.

Lakonie und eine gewisse Heiterkeit helfen ja ohnehin sehr, um mit der eigenen Familie fertig zu werden. Auch mit den Geistern, die man gar nicht rufen muss. Die Geister sind ohnehin immer da.

© SZ vom 11.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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