Europa:Geschichte schreitet nicht zum Besseren fort - jedenfalls nicht von alleine

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SZ-Grafik/Nach Flaggenentwurf von Rem Koolhaas (Foto: N/A)

Man kann eh nichts tun? Stimmt nicht. Gemeinsam sind die überzeugten Europäer aller Länder stärker als die Populisten.

Essay von Evelyn Roll

Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Nationalismus. In fast jedem europäischen Land marschieren sie jetzt, die kleinen Trumps, wie Karikaturen und Zwerg-Wiedergänger der Schlafwandler von 1914. Mit populistischen Dummheiten, nationalistischen Abschottungsfantasien, Verschwörungstheorien und Scheinlösungen sammeln sie die Stimmen der von den globalen Herausforderungen Überforderten, Verängstigten, der Denkfaulen und Verbitterten. Sie wollen vor allem eines: An die Macht. Und dann? Europa abschaffen.

In Polen bestand eine der ersten Amtshandlungen der neuen Rechtsregierung darin, die EU-Flagge aus öffentlichen Gebäuden zu entfernen. Marine Le Pens Front National, der Frankreichs Austritt aus dem Euro fordert, hat erschreckend realistische Chancen, die Macht zu übernehmen. Ungarn scheint schon ganz verloren zu sein. Auch sozialistisch inspirierte Populisten wie Robert Fico in der Slowakei oder Tschechiens Präsident Milos Zeman machen gegen Europa Politik . Cameron riskiert mit seiner Anbiederung an den nationalpopulistischen Zeitgeist, das Europa-Projekt erst zu schwächen und sein Land dann in den Abgrund des Brexit zu stürzen, aus Versehen sozusagen, als Unfall, Braccident. Schon seit der Europawahl 2014 sind euroskeptische Parteien die drittstärkste Kraft im europäischen Parlament. 156 von 751 Abgeordnete wollen das Parlament, in das sie sich haben wählen lassen, in seinen Rechten beschneiden oder noch lieber ganz abschaffen. Jeder Fünfte also. So etwas hat es in der Geschichte des Parlamentarismus auch noch nicht oft gegeben.

Essay in English
:Citizens for Europe

There's nothing we can do about it anyway? Not true. If the staunch Europeans from all over the continent work together, they are mightier than the populists. A call for a fresh start.

By Evelyn Roll

In der nächsten Woche beim EU-Rat wird sich zeigen, ob es die Europäische Union im eigentlichen Sinn überhaupt noch gibt, ob die 28 Länder sich in der Flüchtlingsfrage wenigstens auf einen Minimalkonsens einigen können. Es wird, auch wenn das nicht gelingt, nicht den einen großen Knall geben, mit dem die Europäische Union dann auseinanderfliegt. Aber sie löst sich mehr und mehr auf in zu wenig Solidarität, Ernsthaftigkeit, Enthusiasmus und zu große Skepsis.

Und wir aufgeklärten bis leidenschaftlich überzeugten Europäer aller Länder müssen zuschauen und abwarten, weil wir gegen die Erosion Europas leider so gar nichts tun können?

Das ist falsch. Jeder von uns kann zum Beispiel gleich an diesem Wochenende mit den intelligenteren seiner Einfache-Lösung-Freunden zum örtlichen Chinesen gehen und sich an den Tisch setzen, der unter der pazifikzentrierten Landkarte platziert ist. Man kann solche Karten natürlich auch im Internet betrachten oder den Globus mit dem Pazifik-Bauch nach vorne drehen. So also sehen alle anderen die Welt: Amerika, Lateinamerika, China, Russland, Indien, Afrika, fette Landmassen, beeindruckende Wirtschaftsräume. Ernüchternd marginal und klein am äußeren linken Rand dagegen: Europa, die Länder der europäische Union. Suchen wir unser Land: Italien, Polen, Kroatien, wo sind sie? Sogar Frankreich und Deutschland sind nicht gleich zu finden, Luxemburg oder Slowenien nur Stecknadelköpfchen.

Unter diesem Weltbild sprechen wir über: Klimawandel, Epidemien, Geldströme, Informationsgeschwindigkeit, globale Wirtschaftsunternehmen, Finanzkrisen, Islamfaschisten, internationalen Terrorismus, Armut, Hunger, Gerechtigkeit und über die fast 60 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind.

Noch bevor das Essen kommt, ist schon einmal klar: Ein Stecknadelköpfchen allein wird keine dieser Aufgaben lösen können. Es gibt keine wirksame Politik isolierter Nationalstaaten mehr. Einmauern ist keine Alternative. Der Verzicht auf Weltpolitik schützt nicht vor ihren Folgen. Wer angesichts einer der globalen Herausforderungen in einem europäischen Land sagt "Wir schaffen das", muss mit "wir" genau genommen die Weltgesellschaft meinen, mindestens aber Europa. Besser wäre es, wenn Angela Merkel das gleich dazu gesagt hätte.

Wenn das Weltbild und damit das Selbstbild korrigiert oder befestigt ist, müssen wir - vielleicht beim Gehen nach dem Essen - nur noch einen Denkfehler beseitigen, bevor sich die Energie unserer Sorge in intelligente Aktion umwandeln kann: Es gibt keinen Fortschritt in der Geschichte. Das ist nur eine Utopie, eine säkularisierte Jenseitsvorstellung, die Ende des 18. Jahrhunderts mit dem Verbleichen der christlichen Glaubensgewissheiten leider zu einer Art Zivilreligion der Aufklärung wurde. Marx und Hegel haben daraus die Meistererzählung der Moderne gemacht, die seither zur kulturellen DNA Europas gehört und trotzdem ein Irrtum ist. Wir haben das in der Wolle wie kindliche Dressurbefehle: Ein Junge weint nicht! Kartoffeln nicht mit dem Messer schneiden! Immer schön die rechte Hand geben! Geschichte schreitet linear fort zum Besseren! Man legt das nicht so leicht wieder ab. Aber man muss es versuchen. Weil dieser Denkfehler einerseits das übertrieben große Erschrecken, die Ratlosigkeit und lähmende Erschütterung über den gegenwärtigen Zustand der Welt erzeugt ("aber wir waren doch schon viel weiter") und andererseits die selbstgefällige Gleichgültigkeit und den mangelnden Kampfgeist ("man kann ja eh nichts tun").

Geschichte schreitet nicht zum Besseren fort, jedenfalls nicht von alleine. Was immer gewonnen ist, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte, Aufklärung, kann in Hochgeschwindigkeit wieder verloren gehen. Sogar Deutsche vergessen das gelegentlich: Jederzeit kann das Schlimmste in einer zivilisierten, gebildeten, Dichtung und Musik verehrenden Gesellschaft passieren.

Empört euch! reicht deswegen fast nie. Besser ist: Tut was!

In Deutschland haben diejenigen, die nicht mit den Weltverfinsterern und Nationalpopulisten von AFD oder CSU den Apokalypso tanzen wollten, dank der vielen Geflüchteten in den vergangenen Monaten eine interessante Wiederentdeckung gemacht: sich selbst. Den Bürger, der sich kümmern und einspringen muss, wenn sein Staat nicht in die Puschen kommt. Bürger sein ist eine Aufgabe, die Sinn und sogar Spaß macht, nicht nur für Kant-Liebhaber: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit."

Der nächste, entscheidende Schritt des aufgeklärten, um Europa besorgten Bürgers könnte sein, sich zu vergewissern, dass er nicht alleine ist. In jedem EU-Land gibt es überzeugte Europäer, gerade in Victor Orbáns Ungarn, in Polen, auch in Bayern: Menschen, die unbedingt dafür sind, dass ihre Regierungen sich nicht an kurzfristigen nationalen Interessen oder sogar an reinen, nur parteipolitisch oder persönlich bedeutsamen Umfragewerten und Rachegelüsten orientieren, sondern am Gemeinschaftsinteresse Europas und an den globalen Notwendigkeiten. Sie artikulieren sich noch nicht so deutlich wie die Angsthasen. Aber es sind viele.

Man darf Medienresonanz nicht mit Stärke verwechseln. Die Statistiken sagen, dass in Italien die Zahl derer, die auf Europa setzen, am höchsten (76 Prozent) und in Großbritannien am niedrigsten ist (20 Prozent) . Aber sie sagen vor allem: Insgesamt 42 Prozent der Menschen in der Europäischen Union sind ganz eindeutig für Europa.

Mit 42 Prozent gewinnt man Wahlen. Das sind 200 Millionen Menschen. Eine gewaltige, schweigende Mehrheit, die mit dem Schweigen jetzt mal langsam aufhören und anfangen sollte, sich zu verbinden und zu vernetzen in einer starken pro-europäischen Bürgerbewegung.

Wahrscheinlich ruft spätestens an dieser Stelle einer der Freunde unter der pazifikzentrierten Weltkarte: Partei gründen! Man müsste eine Partei gründen: die europaweite Pro-Europa-Partei, mit einem einheitlichen europäischen Programm und einem Namen in allen Ländern. "Pro Europa" wäre, wie einst die Grünen, solange eine klassische Ein-Programmpunkt-Partei, bis andere Parteien Europa wieder ernsthaft, solidarisch und leidenschaftlich auf ihrer Agenda haben.

Spielen wir das doch mal durch: Die Gründung einer Partei geht, wie man bei den neuen Populisten sehen konnte, heute tatsächlich sehr viel einfacher als früher, das funktioniert wahrscheinlich sogar europaweit. Als Erstes müssten die proeuropäischen Initiativen und Bürger sich untereinander verbinden und vernetzen. Dafür ist das Netz ja da. Es gibt in jedem europäischen Land Plattformen wie "Pro-Europa" oder "Engagierte Europäer", die man klug verlinken und für Aktionen bündeln kann. Warum sollen aufgeklärte Europäer des 21. Jahrhunderts nicht so virtuos die Mittel der Kommunikationstechnik und des Crowdfunding bedienen können wie die Nationalpopulisten, die Daesh-Terroristen oder Putins Propaganda-Trolls? Gemeinsam und mit gewaltigem Stimmpotenzial könnte man Petitionen formulieren, Parlament, Kommission und die eigene nationale Regierung für Europa unter Druck setzen.

Im Jahr 1914 gab es kein Facebook und kein Twitter, mit dem die Bürger Europas ihre schlafwandelnden Staatsoberhäupter hätten wachrütteln können. Heute kann man mit wenig viraler Technik aus dem, was schon da ist, eine große Pro-Europa-Bewegung machen. "Don't touch my Schengen" der "Young European Federalists" ist schon mal ein sehr guter Anfang. Bei Yanis Varoufakis' "Democracy in Europe Movement - 2025" kann man genauer hinsehen und abwarten, ob vielleicht tatsächlich mehr und Besseres daraus werden kann als eine kurze linkspopulistische Post-Syriza-Show.

Aktionen und Forderungen europaweiter Bürgerbewegungen könnten jedenfalls sein: Einsetzung eines Europäischen Flüchtlingsbeauftragten, Einberufung eines Konvents über die Zukunft Europas, Transparenz der europäischen Institutionen, Stärkung des europäischen Parlaments, solidarische und gerechte Verteilung von Pflichten und Lasten. Solche Sachen. Nicht mutlos und verzagt, lahm und defensiv, sondern offensiv fordernd: Die EU ist nicht das Problem, sondern die Lösung.

Wenn es um kompliziertere Fragen geht, funktioniert europaweite Verständigung - darauf hat Jürgen Habermas hingewiesen - natürlich nur, wenn die bisher voneinander völlig losgelösten 28 nationalen Europa-Diskurse anfangen, sich aufeinander zu beziehen und voneinander zu lernen. Italiener denken und diskutieren über Europa vollkommen anders als Briten, Griechen anders als Deutsche; und sie kennen die jeweils andere Debatte fast gar nicht. Auch das kann man im Internet-Zeitalter ändern. Wer in seinem Land einen intelligenten oder provokanten Europa-Text liest, kann ihn auf Englisch übersetzen und auf seinem Pro-Europa-Account teilen. Texte über den kosmopolitischen Imperativ zum Beispiel, also darüber, wie vollkommen ungeeignet Nationalstaaten sind, Politik zu gestalten. Aufsätze, die erklären, warum aufgeklärte Demokratien und erst recht eine freiwillige Gemeinschaft von 28 Demokratien langsamer sind als Diktaturen. Oder: Wie die Populisten in den europäischen Parlamenten die etablierten Rechts- und Linksparteien durch reine Wahlarithmetik gezwungen haben, Koalitionen zu bilden, was Eindeutigkeit und Energie aus den Programmen zieht, wodurch es leichter wird, die Regierungsparteien als geschlossene Elite zu diffamieren. Texte, die fragen: Müssen immer die starken "Geber"-Länder ansagen, wo es langgeht? Braucht die Euro-Zone zwei Geschwindigkeiten? Braucht die EU einen eigenen Haushalt? Einen europäischen Finanzminister? Wie wird das demokratisch kontrolliert? Themen dieser Art.

Die interessantesten Diskussionsbeiträge, Meinungen, Essays und Kommentare aus allen europäischen Ländern könnten auf einer Webseite verfügbar gemacht und ins Englische übersetzt werden. Wer so etwas - am besten von außerhalb der Institutionen und unter einen pfiffigen Namen - initiiert, wird tüchtig Europa-Geld dafür bekommen können. Englisch wird die Sprache sein. Und allein das könnte den Briten deutlich machen, wie dumm und, das auch: unsolidarisch ein Brexit wäre.

Soziale Medien sind immer auch ein guter Platz für Faktenchecks, dafür, die angeblich ganz einfachen Lösungen zu Ende zu denken und Anbieter von einfachen Lösungen zum Selber-zu-Ende-denken zu zwingen. Mit der einen genialen und nur scheinbar kindlichen Frage, die nicht nur Populisten entlarvt, sondern auch Groß-Philosophen, etablierte Politiker und andere Profis. Sie heißt: Und dann? - Ein Zaun gegen Geflüchtete muss also gebaut werden! - Gut. Und dann? Was passiert an deinem Zaun? - Ah, okay. - Und dann, wenn eine Geflüchtete mit ihren vier Kindern versucht, über den Zaun zu klettern?

Weiter: Was sind Gerüchte, was ist Propaganda und Verschwörungstheorie? Auf einer "Pro-Europa-Seite" könnten Beweise und Dokumente veröffentlicht werden. Gibt es eine zweite Quelle? Aufgeklärte Europäer vertrauen nur Medien und Informationen, die die Quelle nennen und eine zweite Quelle haben. "Das Netz denkt" oder "auf Facebook wurde gemeldet" ist keine zulässige Information. Vor allem nicht - das hier nur nebenbei - für Journalisten, die gegen die "Lügenpresse-Propaganda" kämpfen, diesen perfiden Hebel, mit dem die Populisten die apolitische Elitenverachtung verstärken wollen. Nur freie und starke Medien schaffen den öffentlichen Raum, in dem eine Gesellschaft sich über sich selbst verständigen kann.

Eine Bürgerbewegung für Europa heißt aber natürlich nicht, blind und bedingungslos einfach dafür zu sein. Ganz im Gegenteil. Europa kritisieren gehört dazu: Europapolitik muss 28 Ländern nützen, nicht nur den großen Starken. Ein deutsches Europa ist keine Lösung. Die Euro-Zone muss solidarisch konsolidiert werden zu einer Wirtschafts- und Sozialunion. Krisen sind dafür nur scheinbar ein guter Moment. Aber eine annähernd faire Verteilung der Flüchtlinge wird dazugehören. Die Kommission als Hüterin der Verträge muss an ihre Pflicht erinnert werden. Sie muss auf der Umsetzung gemeinsamer Grundlagen und Beschlüsse bestehen, nicht nur bei der Flüchtlingsverteilung, nicht nur in Polen. Das europäische Parlament braucht mehr Macht, um selbstbewusst, entschieden und hart die Grundwerte der EU verteidigen und die Gründungsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion beheben zu können.

Vielleicht sind es ja gar nicht die nationalen Gesellschaften, die die Grundprinzipien Europas vergessen haben. Vielleicht sind es die Institutionen der EU selbst und die Regierungen der europäischen Länder, die zu offensichtlich damit hinterherhinken, diese Grundprinzipien in politische Handlung umzusetzen. Das kommt nicht von zu viel Europa, sondern von zu wenig Europa und verschärft die Legitimationskrise der Europäischen Union.

Wenn alles nicht hilft, wenn antieuropäische Parteien schon an die Macht gekommen sind, wenn sie die Pressefreiheit, unabhängige Justiz und Gewaltenteilung abschaffen wollen, kann es sein, dass die bisher schweigende Mehrheit sogar auf die Straße gehen, Flashmobs und Demonstrationen organisieren muss. Die Polen machen das gerade so. Sie werden (zusammen mit der hier vorbildlich agierenden europäischen Kommission interessanterweise) im besten Fall verhindern, dass die neue Regierung ihr antidemokratisches Programm im Eiltempo durchpeitschen kann, für das sie gar kein Mandat von der Mehrheit der Bevölkerung hat.

Und dann müsste eine europäische Bürgerbewegung, wenn sie tatsächlich Partei werden wollte, natürlich: Kandidaten aufstellen, lokal, regional, national und für das Europaparlament. Solange Staaten Wahlen abhalten, solange sie wenigstens so tun müssen, als gäbe es freie Wahlen, Gewaltenteilung und Pressefreiheit, solange ist es auch noch nicht vorbei, sondern im Gegenteil bewiesen, wie attraktiv die Grundgedanken der Aufklärung sind.

Eine Europapartei gründen also? Ist das jetzt nicht etwas naiv? - Natürlich. In der Naivität dieser Idee liegt ihre Kraft. Und wirklich naiv wäre nur, gar nichts zu tun.

Europäer aller Länder, vereinigt euch!

© SZ vom 13.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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