Essay:Das Versprechen

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Stadt der Träume und der Albträume: Blick auf Manhattan, damals mit den beiden Türmen des World Trade Center. (Foto: Jeffrey Smith/Agentur Focus)

Freiheit ist der Gründungsmythos der USA - ein Lebensgefühl, nach dem sich das weiße Amerika zurücksehnt. Donald Trump weiß das. Gerade das macht ihn so gefährlich.

Von Stefan Kornelius

Damals, Mitte der Achtziger. Wir waren 18, 19 Jahre alt, Redakteure von Schülerzeitungen, und verstanden nicht wirklich viel von Amerika. Für die meisten war es die erste Reise in die USA. Erstaunlicherweise gab es einen Termin im Weißen Haus. Old Executive Office Building, ein imposanter Büroblock im Empire-Stil, gleich neben dem West Wing: lange Flure, weißer und schwarzer Marmor. Am Ende des Gangs ein Besprechungszimmer, an der Stirnseite des Tischs die Fahne. Davor saß John Podhoretz. Mitte zwanzig, schlank, dichtes dunkles Haar.

John war der Sohn von Norman Podhoretz, einem der wichtigsten konservativen Denker im Land. Er schrieb Reden für Ronald Reagan. Von seinem Vortrag ist wenig in Erinnerung geblieben: Sowjetunion, Raketen, ein bisschen Nicaragua - das Repertoire des Kalten Krieges eben. In Erinnerung blieben die Fahne und dieses Wort, das er immer und immer wieder benutzte: freedom, freedom, freedom. Im Weißen Haus von Ronald Reagan wurde die Freiheit sehr in Anspruch genommen. In der Rede zur zweiten Amtseinführung brachte sie der Präsident 15 Mal unter.

Eine Woche später in El Paso, Texas. Die Gruppe war über die Grenze nach Ciudad Juárez gefahren, zu Mama Cita. Die alte Frau betrieb in einem gottverlassenen Winkel der Stadt eine legendäre Kneipe. Der Tresen diente auch als Urinal, die Abflussrinne war vor der Thekenwand in den Boden gegraben. Es gab mexikanisches Bier und einen Blick auf eine Autogrammkarte von Franz Josef Strauß. Auf der Rückfahrt tasteten sich die Scheinwerfer durch den Staub, den die Fahrzeuge auf der Lehmpiste aufwirbelten. Plötzlich Licht. Flutendes, blendend weißes Licht. Die Grenzanlage. Drei mannshohe Buchstaben: U.S.A; eine Fahne, so groß wie ein Haus.

"A beautiful, tall, nice wall." Trump grinst fies, wenn er "beautiful" sagt

Wer von den Ausläufern der Franklin Mountains über El Paso schaute, der konnte genau sehen, wo die USA aufhörten und Mexiko begann. Der Lichterstrom der Stadt ergoss sich ungebremst in die Chihuahua-Wüste hinein. Nur Richtung Süden endete er abrupt an der Grenze.

Heute leuchtet auch Ciudad Juárez, aber hinüber möchte man nicht unbedingt. Drogenkartelle kämpfen um die Macht, eine unheimliche Serie von Frauenmorden lähmt die Stadt. Der Rio Grande, der El Paso und Ciudad Juárez trennt, schiebt sich müde durch sein Betonbett, daneben der Zaun, die Patrouillen-Straße, dann noch ein Zaun, der fein geharkte Sandstreifen, ein dritter Zaun.

Hier also soll bald die Mauer stehen. "A beautiful, tall, nice wall." Donald Trump grinst sein fieses Donald-Trump-Grinsen, wenn er "beautiful " sagt. In seiner TV-Show "The Apprentice" richtete er über Jungmanager mit kaltem Lächeln: Raus mit dir, du fliegst. Die Leute liebten diesen Moment der Brutalität, sie wollten auf der Seite des Stärkeren sein. Auf Trumps Seite.

Die Mauer wird, davon kann man ausgehen, von einer riesigen Fahne geschmückt werden. Und Donald Trump wird das Wort von der Freiheit im Mund führen - "American freedom". "Freedom" funktioniert bei Trump wie "beautiful": Wir sind frei, ihr seid unfrei; wir sind drin, ihr seid draußen.

Freiheit ist eine amerikanische Währung. Sie lässt sich nicht schmecken oder riechen. Sie ist wie die deutsche Gemütlichkeit - wer sie kennt, der spürt sie sofort. Freiheit ist eine Illusion, eine Utopie; dennoch steht sie für das amerikanische Lebensgefühl schlechthin. Sie ist wie ein Gefäß, vollgepackt mit Sehnsüchten und Erfahrungen: keine Meldepflicht, keine Spartaste auf dem Klo, kein TÜV - zumindest in vielen Bundesstaaten nicht. Freiheit ist angeln und schießen, ist aufpacken und fortziehen, ist in der Anonymität verschwinden. Freiheit ist, wenn man in Scottsbluff, Nebraska, wohnt und um sich nur die Unendlichkeit dieses Landes spürt, das dann schnell zu einem großartigen Land wird. Und wenn man glaubt, dass man Präsident werden kann, selbst wenn man aus Scottsbluff, Nebraska kommt. "Freedom" und "great" liegen im amerikanischen Gefühlsvokabular gleich nebeneinander.

"Make America great again" - die Trumpsche Verheißungsformel klingt wie eine Zeile aus einem Gebet. Da lässt sich alles hineinprojizieren, was das patriotische Herz begehrt. Perfide ist aber das "again" am Ende. Großartig war Amerika in den Augen seiner Patrioten eigentlich schon immer, aber Trumps Botschaft geht weiter: Die alte Größe gibt es nicht mehr, sie muss erst wiedergewonnen werden. Da schwingt mit: Früher war alles besser, die alten Zeiten sollen zurück.

Wahlslogans sind Kompressen für politische Verletzungen. Sie bauen Druck auf, stoppen den unkontrollierten Blutverlust. Ein Kandidat braucht sie, weil Wahlkämpfe immer auch Gemetzel sind und Teil einer Selbstvergewisserung: Wer sind wir? Wo stehen wir? Was eint uns? Die amerikanische Demokratie erlebt spätestens alle acht Jahre diese blutige Inventur. Und immer wieder geht es dabei um das größte Gefühl, das die amerikanische Politik zu erzeugen vermag: Freiheit.

Kein Begriff der amerikanischen Staatsphilosophie ist so aufgeladen wie die Freiheit

So wie sich das Land zu seinen demokratischen Hochfesten wie dem 4. Juli auf seine Wurzeln besinnt, so wird am Wahltag das Urversprechen von der grenzenlosen Freiheit neu verhandelt. Der Historiker Detlef Junker spricht von der "amerikanischen Dreieinigkeit von Gott, Vaterland und Freiheit", und er schreibt, dass sich die Nation an solchen Festtagen neu konstituiere, "indem sie ihrem Gründungsmythos vom ,süßen Land der Freiheit' ("sweet land of liberty") Dauer und Zukunft verleiht".

Geht's auch weniger pathetisch? Nein, geht es nicht, denn kein Begriff im Kosmos der amerikanischen Staatsphilosophie ist derart aufgeladen wie die Freiheit. Freedom oder auch Liberty: Die englische Sprache hält gleich zwei Vokabeln bereit, die von den Amerikanern zu jedem Augenblick der Geschichte mit neuer Bedeutung gefüllt wurden. "The issue is liberty and freedom", sagte George W. Bush kurz vor Kriegsbeginn 2003. Doppelt hält besser.

Amerikas Gründer nannten ihre Freiheit "liberty" - den Begriff hatten sie von den Engländern abgekupfert, die sich stolz ihrer "English liberty" rühmten. Die Unabhängigkeitserklärung versprach folgerichtig: Leben, Freiheit und das Recht auf Glück ("life, liberty and the pursuit of happiness"). Abraham Lincoln sah die Nation in Freiheit gezeugt ("conceived in liberty") und erhoffte sich nach dem Bürgerkrieg eine neue Geburt der Freiheit ("a new birth of freedom"). Die US-Hymne besingt "the land of the free", der Treueschwur auf die Fahne deklamiert die unteilbare Nation, mit "Freiheit und Gerechtigkeit für alle".

So liegt die Freiheit unter dem Gebäude der Nation wie ein festes Fundament. Immer mehr Ideal als Realität, aber immer auch Antrieb und Richtgröße der Gesellschaft. "Herrschaft und das Versprechen nach Freiheit, imperium et libertas, prägen das Janusgesicht der amerikanischen Geschichte", schreibt Junker.

Zeitsprung von Ronald Reagan zu Bill Clinton in die frühen Neunzigerjahre. New York, Upper West Side. Arthur Schlesinger Jr. wohnt in einem unprätentiösen Apartment gleich um die Ecke der Metropolitan Opera, der Historiker gilt als einer der wichtigsten Intellektuellen des Landes. Der Mann ist alt, ein wenig gebeugt, aber sein Geist ist scharfkantig. Schlesinger hat ein Buch geschrieben, es ist eine fulminante Streitschrift: "The Disuniting of America". Der Kennedy-Biograf warnt, dass die USA ihr europäisches Erbe zu verspielen drohten. Die vielen Einwanderer aus der lateinamerikanischen Welt und aus Asien würden das Erbe der Europäer untergraben, weil sie kein Empfinden hätten für Freiheit und Demokratie, so wie die Erben der europäischen Einwanderer.

Schlesingers Analyse wird aufmerksam verfolgt und äußerst kontrovers diskutiert, aber sie geht am Ende unter in der Euphorie der Nach-Sowjet-Zeit. Die Demokraten sitzen im Weißen Haus, die Wirtschaft fängt sich gerade, Amerika ist mit sich zufrieden. Dennoch: Ausgerechnet der liberale Schlesinger setzt das Thema, das dem weißen und konservativen Amerika von nun an die größten Sorgen bereiten sollte: "decline" - der Niedergang. Der Abstieg, so die Sorge, bedeute das Ende des weißen Amerika und der Dominanz der USA.

Die Furcht vor dem schleichenden Niedergang hat den Gesellschaftsdiskurs in den USA schon immer angeheizt. Die Abstiegsliteratur füllt Regalmeter. 9/11 lieferte eine konkrete Vorstellung davon, wie das Ende aussehen könnte. Die Amerikaner haben sich gegen diesen Angriff gestemmt mit nationalem Pathos - aber auch mit einer Gegenattacke auf die Freiheit. Was die Freiheit eigentlich schützen sollte, hat sie am Ende schwer beschädigt: die Sicherheitsgesetze, die Kriege, der Verlust an Ausstrahlung und Vorbildlichkeit. Heute haben sich die USA bereits ein Stück weit von der Welt zurückgezogen, das Machtvakuum wird von anderen gefüllt.

Zum äußeren Niedergang kam der innere Streit, "disunity". Er hat sich tief in die Gesellschaft hineingefressen. Ob Kultur- oder Geschichtskriege: Regelmäßig poppen die inneren Scharmützel um die Identität auf. Seit 9/11 hat sich der Ton noch einmal verschärft. Wie immer geht es um Religion oder den Rassenkonflikt, diese ewig schwärende Wunde. Aber es sind neue Probleme hinzugekommen: die Waffengewalt, die extreme Ungleichheit, ein ernsthaftes Drogenproblem, der politische Extremismus in Washington - wer den Gegner mit Hass überzieht, kann auch keine Kompromisse mehr schließen.

Trump verspricht Identität, Selbstbewusstsein, Stärke. Freiheit durch Exklusion

Immer schon waren die USA alles auf einmal: missionarisch oder verzagt, besoffen von der eigenen Exzeptionalität oder depressiv im Niedergang. Diesmal, zur Wahl 2016, ist die Mischung besonders gefährlich. Da ist eine Mixtur entstanden, die den Kandidaten Donald Trump überhaupt erst möglich gemacht hat.

Trump verfügt über einen besonderen Instinkt. Er wittert Schwäche; er verfügt über das perfekte Gespür für die Stimmung der Masse; er weiß, wen er opfern muss, um den Applaus zu provozieren. Donald Trump funktioniert wie ein Impresario bei den Tributen von Panem. Er ist der ideale Präsidentschaftskandidat.

Jetzt hat er eine Kraft entfesselt, die lange unter der Oberfläche schlummerte. Es ist die Kraft des weißen Mannes, die Kraft der Erben der Gründer. Es ist die Kraft der Freiheit. Aber Vorsicht: Der Kandidat nutzt die Freiheit nicht als Verheißung, sondern als Werkzeug der Abschottung.

Trump sagt seinen Wählern, dass Amerika seine Freiheit verloren habe. Ihr Amerika, das Amerika ihrer Vorfahren, kannte klare Regeln: Gott, das Vaterland, die Fahne, das Aufstiegsversprechen für den vielleicht ungebildeten, aber ehrlichen Arbeiter. Zum Mythos der amerikanischen Einwandererkultur gehört die Erzählung von Durchlässigkeit und Freiheit: Alles ist möglich, wenn du nur willst. Dieses Erbe haben sie dir geraubt, suggeriert Trump. Sie nehmen dir Amerikas Freiheit.

Sie - das kann inzwischen jeder sein: der Feind im Inneren oder im Äußeren, die mexikanischen Einwanderer, die koreanischen High-School-Absolventen, die chinesischen Studenten.

Amerikas weiße Mittel- und Unterschicht sind empfänglich geworden für diese Botschaft. Der Präsident ist schwarz. Die Universitäten sind multikulturell. Spanisch ist quasi Amtssprache im Süden. Bald wird das demografische Pendel umschlagen und die weiße Gründergesellschaft zur Minderheit machen. Prognosen sagen einen Anstieg der Bevölkerungszahl um bis zu 100 Millionen Menschen bis zum Jahr 2050 voraus - nicht, weil die Geburtenrate so hoch wäre, sondern weil Migranten aus aller Welt ins Land drängen.

Wichtig ist also die zweite Botschaft Trumps: Ich werde euch schützen; ich werde eure Freiheit gegen die Eindringlinge und die unruhige Welt verteidigen - mithilfe einer Mauer. Trump verspricht Identität, Selbstbewusstsein, Stärke. Freiheit durch Exklusion.

Das ist eine mächtige Botschaft, die tief im Bewusstsein der Amerikaner ankommt. Sie hallt wider in der weißen Mittelschicht, aber nicht nur dort. Sie ist die Botschaft des alten Amerika, das bei der Präsidentschaftswahl im November zum vielleicht letzten Mal seine Macht testet.

© SZ vom 17.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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