Es gibt Sätze, die gehören zum Standardrepertoire jeder Kindheit. Oft sind es die ersten Sätze, die wir hören - und die letzten, an die wir uns im Alter erinnern werden. Die Lebensweisheiten der Mutter oder die Ermahnungen des Opas sind in unserem Gedächtnis so fest verankert wie Radfahren oder unsere Muttersprache, weil wir sie immer wieder gehört haben. Deshalb prägen sie uns, auch wenn wir sie längst für Unsinn halten, bestätigen Gedächtnisexperten. Die Sprüche zeigen auch, wie schnell sich Erziehung wandelt. Vieles, was früher gängig war, klingt heute äußerst seltsam. SZ-Autoren berichten, was sie selbst zu hören bekamen.
"Wer weiß, wofür es gut ist"
... sagte meine Mutter, wenn ihr nichts Tröstendes mehr einfiel. Nach einer Minute durch die Führerscheinprüfung fliegen, weil man einen Fußgänger übersehen hatte? Sich in einem nicht zu enden scheinenden Liebeskummer verzehren? Sinnlos mit eingegipstem Arm drei Wochen lang aufs Meer starren? Lange habe ich mich gefragt, wozu dieser Satz eigentlich gut sein soll. Eine elterliche Allzweckwaffe, mit der man ein bisschen Anteilnahme zeigt, Optimismus verbreitet, aber nicht zu viel verspricht. Inzwischen finde ich: Er hat auch sein Gutes. Denn neben der beruhigenden Wirkung versteckt sich eine andere Botschaft: Mit etwas Abstand betrachtet sind die wenigsten Dinge es wert, sich über sie aufzuregen. Mareen Linnartz
"Millionen Fliegen fressen Scheiße"
... sagte mein Vater immer, wenn meine Geschwister und ich irgendetwas sagten oder wollten oder taten und es damit begründeten, dass "die anderen" das auch sagten oder hatten oder so machten. Ich mochte den Satz gar nicht. Immer musste ich mich fragen, ob ich etwas mit einer Fliege gemeinsam habe, wenn ich dasselbe will wie jemand anderes, und ob das, was alle wollen, automatisch Mist sein muss? Je älter ich wurde, desto besser fand ich den Gedanken hinter dem Satz: Es ist wichtig, Dinge nicht einfach zu machen, weil "man das so macht". Nicht weil ich die anderen für Fliegen halte oder was sie machen für Scheiße. Sondern weil ich gelernt habe, es vor mir selbst halbwegs genau zu begründen, wenn ich etwas sage oder tue. Meinen Kindern versuche ich das auch beizubringen, die etwas stinkige Metaphorik spare ich mir aber. Meredith Haaf
"Denk an die hungernden Kinder in Afrika"
... sagte meine Mutter immer zu mir, wenn ich nicht aufessen wollte (was nicht häufig vorkam) oder mich über mein Pausenbrot beschwerte (was häufig vorkam, denn gefühlt steckte in den von meiner Mutter gewissenhaft wiederverwerteten Vespertüten stets altes Brot). Mit der Zeit konnte ich den Satz genau antizipieren. Mitgefühl oder gar Einsicht bewirkte er bei mir allerdings nicht. Was würde mein Aufessen den Kindern in Afrika schon helfen? Manchmal stellte ich mir ein unterirdisches Rohr vor, in dem wir all das übrig gebliebene Essen direkt nach Afrika schickten, ein Resterohr sozusagen. Als ich selbst zum ersten Mal meinen vierjährigen Sohn so ermahnte, erschrak ich. Ich wollte ihm eine Nichtallengehtessogutwieuns-Lektion erteilen und zack, da waren sie wieder, die hungernden Kinder in Afrika - diesmal sogar als Foto auf meinem iPhone. Ich hatte tatsächlich "hungernde Kinder" gegoogelt. Ich erschrak ein zweites Mal, mein Sohn starrte auf das Handy. Noch Tage später fragte er mich: "Mama, zeigst du mir noch mal die Kinder?" Seinen Teller isst er seitdem trotzdem nicht leer. Ann-Kathrin Eckardt
"Das Leben ist ungerecht"
... sagte mein Vater, wenn er nach irgendeiner Reise nur einem von uns drei Kindern ein Geschenk mitbrachte, oder wenn er an Weihnachten bei einem Kind aus der Reihe noch ein Extrapaket drauflegte und damit das von meiner Mutter mühsam austarierte Geschenke-Gleichgewicht in Schieflage brachte. Aus Kindersicht beschrieb der Satz also schreiendes Unrecht. Da war nichts zu machen. Mein Vater beschenkte, wen er wollte, und wie viel er wollte. Mal gar nichts, mal viel mehr als erwartet. Und weil nichts zu machen war, hatte der Satz am Ende auch etwas Befreiendes. Es lohnte nicht, erbittert auf seinen Anspruch zu pochen, man wartete auf den Tag, an dem man selbst mit dem Extrageschenk überrascht wurde. Heute steht der Satz für mich auch für eine Lebenshaltung. Den Unwillen, es anderen Leuten recht machen zu müssen, das Wissen, dass das Glück manchmal im Unerwarteten liegt. Jetzt da ich selbst vier Kinder habe, sage ich auch manchmal: Das Leben ist ungerecht. Denn fair geht es aus Kindersicht ja ohnehin nie zu. Nina von Hardenberg