Deutschlands größte Kantine:Der Schatz in der Salatbar

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Massenspeisung früher und heute: Deutschlands größte Kantine nennt sich mittlerweile "Betriebsrestaurant", in dem sich die "Gäste" an Wok-Pfannen und Saftbars laben.

Jochen Temsch

Eine Kantine ist ein Ort, an dem eigentlich keiner sein will und wo trotzdem alle hingehen, um sich gegenseitig zu versichern, wie schlimm es mal wieder ist. Man nimmt ein Tablett, stellt sich in eine Schlange, wartet, bis jemand "Nächster!" ruft und eine Kelle Gulasch auf den Teller klatscht. Dann rückt man vor zur Paradiescreme. Und deshalb verzieht Dietmar Zander den Mund, wenn er das K-Wort hört.

Massenspeisung 1963: In der Kantine der Bayer-Werke in Leverkusen (Foto: Foto: Bayer/Leverkusen)

Kantine, das ist für ihn ein Synonym für Abspeisung und Massenabfertigung. Zander redet lieber von Gemeinschaftsverpflegung, von Betriebsküche und von Marktrestaurant. Er sagt: "Bei uns sollen sich die Gäste wie bei einem Einkaufsbummel fühlen." "Gäste", noch so ein Un-Kantinen-Wort. Sie sollen mal hier, mal da an Wok-Stationen, Grills oder Saftbars zugreifen, wo alles frisch zubereitet wird - gerade so, wie sie Lust zum Probieren haben. Ab 3,85 Euro gibt es ein Menü auf vorgewärmten Tellern. 4000 Mahlzeiten pro Tag gehen über Zanders Theken - in einem der größten Betriebsrestaurants Deutschlands.

Dietmar Zander ist seit 20 Jahren Küchenchef des Mitarbeiterrestaurants im historischen Kasino der Bayer-Werke in Leverkusen. Das Haus gehört zur Bayer Gastronomie GmbH, die an all ihren Standorten zusammen eine Kleinstadt satt machen kann: mit 70000 Mahlzeiten täglich. Aber das Unternehmen kocht längst nicht mehr nur für Mitarbeiter. Mehr als die Hälfte ihres Jahresumsatzes von 63,3 Millionen Euro macht die Bayer Gastronomie extern, in öffentlichen Gastronomiebetrieben wie zum Beispiel in der Leverkusener Bayarena, auf der Kölnmesse oder im Karneval.

70.000 Mahlzeiten täglich

Geschäftsführer Axel Fischer sagt: "Von der Sterneküche bis zur Frittenbude decken wir alles ab." Dazu kommen Beratungsaufträge. Soeben hat Fischer das wohl größte europäische Mitarbeiterrestaurant für den spanischen Konzern Telefonica aufgebaut: ein Haus für 17000 Esser. Um rentabel zu sein, gliederte Fischer die Bayer Gastronomie vor zwölf Jahren aus der Bayer AG aus. Seitdem behauptet er sich in einer unter Druck stehenden Branche.

Die Kosten für Lebensmittel steigen. Die Zuschüsse der Betriebe für ihre Mittagstische sinken. Aber die Arbeiter und Angestellten sind "anspruchsvoll, gesundheitsbewusst, preissensibel", wie das Fachblatt gv-Praxis schreibt. Trotzdem stehen Kantinen und Caterer mit 15 Milliarden Umsatz im Jahr laut Deutschem Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) weitaus besser da als der Rest der angeschlagenen Sparte.

Täglich essen 6,1 Millionen Menschen in Betriebsrestaurants und geben dabei im Schnitt 2,33 Euro aus - Tendenz steigend. Laut Dehoga liegt dieser Erfolg nicht nur an effektiven Produktionsabläufen, sondern auch am Ideenreichtum der Betriebs-Wirte. Küchenpsychologen reden von "emotionaler Bindung" durch die appetitliche Präsentation von Gemüse, "Verkaufsanreizen" durch nettes Personal und innovativen "Produktlinien" wie kalorienarmer Kost - obwohl die Currywurst in der Gunst des deutschen Kantinengängers immer noch ganz oben im Ketchup schwimmt.

Auch in Leverkusen wird der Kasinobesuch nicht als selbstverständlich angesehen. "Ähnlich wie ein Sternekoch hart daran arbeitet, sein Niveau zu halten, so müssen auch wir ständig Neues bieten", sagt Zander. So lässt sich anhand des Kasinos auch ein gesellschaftlicher Wandel erzählen: eine Geschichte, die 1895 mit der Gründung einer einfachen Werksküche, der "Arbeiter-Speisenanstalt", begann.

Am Standort des Kasinos sieht es heute noch ein bisschen so aus wie auf Schwarzweißfotos im Geschichtsbuch, spätes 19. Jahrhundert, Kapitel industrielle Revolution: riesige Fabrikhallen im Schatten gigantischer Backsteinschlote, Arbeitsplätze für mehr als 20000 Menschen. Die heutigen Manager residieren in einem gläsernen Halbrund, das sich wie zu einer Umarmung öffnet. Aber prunkvolle Direktoren-Villen zeugen immer noch von der einstigen Prachtentfaltung deutschen Großindustriellentums. Im Park-Anwesen des Chemikers Otto Bayer wurde das Kasino zunächst nur für Angestellte eingerichtet.

Heute ist das Haus für alle offen, beherbergt außerdem ein Vier-Sterne-Superior-Hotel und ein Weingeschäft mit 100.000 Flaschen im Depot, das früher den Chefs vorbehalten war. Altes Standesbewusstsein sieht man dem Kasino noch an. Der mit gediegenen Holzpaneelen verkleidete Speisesaal ist groß und hoch wie eine Turnhalle. Im Kaminzimmer hängt scheinbar immer noch der Zigarrenrauch jener Kaiser-Wilhelm-Bart-Träger, die sich hier ehedem um Generaldirektor Carl Duisberg scharten. Der Firmenpatriarch ist stets gegenwärtig. Vom Speisesaal aus sieht man sein Grab: ein Tempel im antiken griechischen Stil. Hier machen Kasino-Gäste Verdauungsspaziergänge und nippen an frisch gepresstem Saft aus Mangold, Ingwer und Honig.

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Fabrik mit Schlachthof

Massenspeisung heute: das "Casino" in den Leverkusener Bayer Werken (Foto: Foto: Bayer/Leverkusen)

Die Vitaminbombe ist neu im Kasino. Für solche Angebote gibt es extra eine Abteilung, die mit Trendscouts nach Abwechslungen forscht. Servier-Strategen bringen die neuen Ideen in Rezeptform. Vom Fleisch bis zu den Salzkörnern ermitteln sie für jede einzelne Zutat kostengünstige Lieferanten. Dann gibt es bald eine noch nie dagewesene Pasta-Soße, Pfirsichcreme mit Grüntee oder eben flüssigen Mangold im Angebot. Bis zu 85 Prozent der Zutaten werden als convenience food angeliefert, sind mit hoher Qualität vorverarbeitet, etwa vorgedämpfte Kartoffelspalten oder geschnittener Salat.

In der Küche gibt es keinen einzigen Topf. Dafür Bratkipp-Pfannen und badewannengroße Kessel, die 800 Liter Suppe fassen. Kombidämpfer, in denen Fleisch bei schonenden 100 Grad Celsius durchzieht, und Druck-Garer, in denen Zucchini 30 und Bohnen 40 Sekunden brauchen - so schnell, dass Zander je nach Nachfrage kochen kann und kaum mehr etwas im Müll landet.

Es ist eine Just-in-time-Produktion ohne lange Lagerung: Um sechs Uhr früh fahren 15 Lkw vor, bringen in der Woche unter anderem zwei Tonnen Salat oder 800 Kilo Kartoffeln, die über Kühlräume zügig in die Küchengeräte und an die Stände wandern. Vor den Augen der Gäste wird das Finale erledigt - "im Frontbereich", wie es im Küchenjargon heißt. Am Abend sind die Regale wieder leer. Und obwohl 4000 Essen die Küche verlassen, ist sie nur 100 Quadratmeter klein.

Zu Duisbergs Zeiten sah das anders aus: Die Werksküche H 4 umfasste 2400 Quadratmeter auf drei Stockwerken, einschließlich Bäckerei und Schlachthof. Bauern zogen ihre muhenden Tiere aufs Fabrikgelände. Mit dem Trecker fuhren sie Kartoffeln vor. 100 Frauen waren allein mit Schälen beschäftigt. Man sprach von Küchen-Brigaden. Dietmar Zander hat nur 41 Mitarbeiter für die ganze Arbeit von der Zubereitung bis zur Reinigung. Trotzdem gibt es von Hektik keine Spur. Ausgewogen abgeschmeckt ist eben auch das Verhältnis von Qualität und Wirtschaftlichkeit. Die Bayer-Leute haben exakt berechnet, wie sich der Verkauf an den Ständen entwickelt. Präsentation der rohen Zutaten am Wok: elf Prozent Steigerung. Eine freundliche Presserin an der Saftbar: bis zu 16 Prozent.

Als Axel Fischer Mitte der neunziger Jahre die Geschäfte übernahm, glaubte kaum jemand, dass sich mit mehr Frische und mehr Angebot mehr Umsatz machen ließe. Doch die Zahlen sprechen für sich. Eine größere Palette an Essigen und Ölen brachte 16 Prozent mehr Absatz an der Salatbar. Täglich präsentiert Zander 35 verschiedene Grünmixe auf zerstoßenem, von unten beleuchtetem Eis, das glänzt wie Golddukaten - der Schatz des Kasinos, der jährlich 720000 Euro einbringt.

Und die Kundschaft scheint zufrieden. Hinter den Kassen liegen Formulare für Lob und Kritik aus. Darin geht es um Pizzaböden, den Wunsch nach Sesamöl oder die Preiserhöhung bei Mohnbrötchen. Nichts Schlimmes für Kasino-Chef Zander. Nicht wie in einer Kantine.

© SZ vom 22.2.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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