Artikel 79:Für immer Demokratie

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Könnte eine stramm rechtspopulistische Mehrheit des Bundestages womöglich die Grundrechte abschaffen? Die deutsche Verfassung gibt darauf eine eindeutige Antwort: Nein. Ein Szenario.

Von Stefan Ulrich

Ein hoffentlich ganz und gar fiktives Szenario: Nach einer langen Wirtschaftskrise mit steigender Arbeitslosigkeit ist es auch in Deutschland soweit. Eine populistisch-autoritäre Partei namens Nationaldemokratische Front (NDF) gewinnt die Wahlen. Zusammen mit zwei kleineren Parteien bekommt sie die Mehrheit im Bundestag. Daraufhin entfesselt die NDF-Regierung eine Kampagne zur Änderung des Grundgesetzes. Überall in Deutschland gehen ihre Anhänger auf die Straße und fordern eine Neuausrichtung Deutschlands als autoritär regierten Nationalstaat, in dem gilt: "Deutsche zuerst." Nur so, fordern die Massen, könne die Krise überwunden und das Volk geschützt werden.

Als Demonstranten aus der ganzen Bundesrepublik bei einer Sternfahrt auf Berlin zusteuern, knicken zwei Oppositionsparteien ein. Um Schlimmeres zu verhindern, verhandeln sie mit der NDF-Regierung. Dabei können sie zwar vereiteln, dass die Gewaltenteilung aufgehoben und die Grundrechte mit der Einschränkung versehen werden, sie dürften nur "im Rahmen des Volkswohls" in Anspruch genommen werden. Dafür geben sie der NFD aber in anderen Punkten nach: Die Bundesländer werden abgeschafft, aus Deutschland wird ein Zentralstaat. Der Schutz der Menschenwürde in Artikel 1 des Grundgesetzes wird insoweit eingeschränkt, als die Regierung im Fall eines Staatsnotstandes, den der Bundestag mit Zweidrittelmehrheit erklären kann, die Menschenwürde von Ausländern, Straftätern und Staatsfeinden einschränken darf. Zudem kann die Regierung bei einem solchen Staatsnotstand vorübergehend das Demonstrationsrecht, das Streikrecht und die Pressefreiheit aussetzen.

Der Bundestag stimmt den Änderungen mit Zweidrittelmehrheit gemäß Artikel 79 Absatz II des Grundgesetzes zu. Daraufhin ruft ein Viertel der Abgeordneten das Bundesverfassungsgericht an: Die Grundgesetzänderung sei verfassungswidrig. Sie verstoße gegen die "Ewigkeitsgarantie". Diese ist in Artikel 79 Absatz III niedergeschrieben und erklärt unter anderem "die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze" für unantastbar.

Diese Ewigkeitsklausel ist eine Reaktion auf das Dritte Reich. Die Nazis waren rein formaljuristisch rechtmäßig an die Macht gekommen. Sie brachten den Reichstag allerdings mit Druck und Zwang dazu, ein Ermächtigungsgesetz zu verabschieden, das die Weimarer Verfassung änderte. Die Regierung erhielt so das Recht, Gesetze zu verabschieden - und diese durften von der Verfassung abweichen. Faktisch nahm sich der neue Reichskanzler Adolf Hitler damit das Legislativrecht. Der Weg in die Diktatur war frei.

Aus solchen Erfahrungen heraus ersannen die Schöpfer des Grundgesetzes die Ewigkeitsklausel. Die Menschenwürde und die Grundpfeiler der Demokratie sollten sturmfest gemacht werden. Hierzu zählen die Gliederung des Bundes in Länder, Demokratieprinzip, Gewaltenteilung sowie das Prinzip der Volkssouveränität. Natürlich kann auch die Ewigkeitsgarantie die grundgesetzliche Ordnung nicht vor einem erfolgreichen Putsch schützen. Doch sie kann verhindern, dass sich Verfassungsfeinde die totale Macht auf legalem Weg erschleichen. Die Ewigkeitsgarantie ist somit Ausdruck einer wehrhaften Demokratie, die ihre Prinzipien auch vor wechselnden Mehrheiten im Volk und Parlament schützt.

Sofern das Verfassungsgericht im beschriebenen fiktiven Szenario intakt ist, wird es die von der NDF geplanten Grundgesetzänderungen verwerfen. Denn die Ewigkeitsgarantie verbietet eine Abschaffung des Bundesstaates und eine Einschränkung der Menschenwürde durch die Regierung. Auch andere Grundrechte wie die Versammlungs- oder Meinungsfreiheit sind garantiert, soweit ihr von der Menschenwürde umfasster Kern betroffen ist. Die nationalpopulistische Regierung in Berlin gibt sich damit jedoch nicht zufrieden. Ihre Rechtsberater ersinnen eine gewitzte Lösung. Sie schlagen vor, die Ewigkeitsgarantie selbst abzuschaffen. Denn nach dem Wortlaut schützt Artikel 79 Absatz III sich selbst nicht. Doch wiederum stoppt das Bundesverfassungsgericht die Pläne der Rechtsregierung. Denn nach ihrem Sinn und Zweck muss die Ewigkeitsklausel auch selbst vor Verfassungsänderungen gefeit sein. Sonst wäre sie einfach auszuhebeln.

Die national-autoritäre Regierung stürzt nun in eine Krise. Die NDF zerfällt im Streit zwischen jenen, die das Grundgesetz respektieren, und jenen, die eine Revolution fordern. Die Wirtschaftskrise spitzt sich zu, die Arbeitslosigkeit steigt weiter. Bei den nächsten Wahlen erlebt die NDF ein Desaster. Eine liberale, proeuropäische Koalition kommt an die Macht. Sie möchte bald ihr wichtigstes Wahlversprechen umsetzen mit Frankreich und weiteren EU-Ländern die "Vereinigten Staaten von Europa" zu schaffen. Deutschland soll als Bundesland in diesem Gesamtstaat aufgehen. Der neu gewählte Bundestag stimmt dem Gründungsakt mit Zweidrittelmehrheit zu.

Doch wiederum schreiten die Verfassungsrichter ein. Sie verweisen auf ihr Urteil zum EU-Vertrag von Lissabon. Danach verstößt ein Aufgehen der deutschen Staatlichkeit in einem europäischen Bundesstaat gegen das Grundgesetz. Die Ewigkeitsgarantie schützt auch Artikel 20 Absatz II. Danach geht alle Staatsgewalt vom Volk aus. Gemeint sei das deutsche Volk. So urteilten die Verfassungsrichter 2009 in der Lissabon-Entscheidung: "Das Grundgesetz ermächtigt die für Deutschland handelnden Organe nicht, durch einen Eintritt in einen (europäischen) Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes ... aufzugeben."

Zwar fordert die Präambel des Grundgesetzes das deutsche Volk auf, "als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen". Und Artikel 23 ruft zur "Verwirklichung eines vereinten Europas" auf. Dennoch muss Deutschland nach Ansicht der Verfassungsrichter ein Kern souveräner Staatlichkeit bleiben und der Bundestag ausreichenden Raum zur Gestaltung von Wirtschaft, Kultur und sozialem Leben in Deutschland behalten.

Adieu europäischer Bundesstaat? Auch die neue Regierung hat gewitzte Juristen. Sie verweisen auf Artikel 146: "Dieses Grundgesetz ... verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist." Mit anderen Worten: Die Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes ist relativ. Sie gilt nur, solange das Grundgesetz als Ganzes besteht. Die Deutschen können kraft ihrer verfassungsgebenden Gewalt als Volkssouverän das Grundgesetz aufheben und Vereinigte Staaten von Europa mitbegründen. Dafür stehen ihnen zwei Wege offen: ein Volksentscheid, durch den sie dem europäischen Bundesstaat beitreten, oder die Wahl zu einer verfassungsgebenden Versammlung, die dies für sie tut.

Ist die Ewigkeitsklausel also endlich? Könnten die Deutschen etwa an einem diktatorischen europäischen Superstaat mitbauen? Wer die Verfassungsgeschichte ernst nimmt, wird antworten: Nein. Von Sinn, Zweck und Systematik her fordert das Grundgesetz, dass auch eine europäische Verfassung Demokratie, Rechtsstaat und die Menschenwürde bewahrt.

© SZ vom 04.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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