Alexander von Humboldt:Das Universalgenie

Lesezeit: 9 Min.

Er war ein wagemutiger Entdecker, ein unermüdlicher Naturforscher und ein ökologischer Vordenker: Vor 250 Jahren wurde Alexander von Humboldt geboren, der unser Verständnis von der Welt revolutioniert hat.

Von Boris Herrmann

Es gibt nicht viele Berge, die so dekorativ in der Landschaft stehen wie der Antisana in Ecuador. Das 5704 Meter hohe schneebedeckte Vulkanmassiv duldet offenbar keine anderen Gipfel neben sich, das Staunen des Betrachters gehört ihm ganz alleine. Wie ein verlassenes Märchenschloss inmitten einer grünen Hochebene sieht der Antisana aus. Wobei es schon sein kann, dass auch die dünne, die Sinne vernebelnde Andenluft zu diesem erhabenen Eindruck beiträgt. Keine fünf Minuten geht man hier spazieren, ohne sich nach Sauerstoff zu sehnen. Einer der ersten Europäer, die diese Gegend bestaunten, notierte im März 1802 in sein Tagebuch: "Ein Respirationsgerät könnte dem Luftmangel abhelfen."

Alexander von Humboldt wurde vor 250 Jahren geboren. Aus diesem Anlass beschäftigen sich die Deutschen so intensiv wie selten zuvor mit dem preußischen Naturforscher, Entdecker und Universalgelehrten. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist gerade "auf den Spuren Humboldts" durch Kolumbien und Ecuador gereist, in der Universität von Quito eröffnete er das Humboldt-Jahr. Steinmeier bezeichnete Humboldt als einen seiner "Helden aus der Geschichte", als den "anderen Preußen", den Aufklärer, "der die Welt in deutsche Lande trug und uns allen beibrachte, dass diese Welt uns etwas angeht."

Was oft übersehen wird: dass Humboldt auch ein Erfinder war. Auf ihn gehen die Temperatur- und Drucklinien zurück, die wir heute aus dem Wetterbericht kennen. Er entwickelte auch eine wasserfeste Tinte, deren Tauglichkeit er bei einem Schiffbruch auf dem Orinoco-Strom in Venezuela gleich selbst nachweisen konnte und der wir Gegenwartsmenschen zu verdanken haben, dass seine südamerikanischen Reisetagebücher überhaupt noch lesbar sind. So etwas wie ein Respirationsgerät - heute würden wir Sauerstoffmaske sagen - gab es zu seinen Lebzeiten aber noch nicht. Es handelte sich offenbar um einen spontanen Einfall angesichts seiner Schnappatmung. "Selbst die Tiere haben hier Atembeschwerden", stellte er fest.

Es gab nichts zu essen und keine Kerzen, alle trugen nasse Kleider

Für Humboldt waren solche äußeren Widrigkeiten allerdings kein Grund umzukehren, sondern ein Anlass, seine schweren Gerätschaften auszupacken und loszuforschen. Er hatte unter anderem ein Barometer, ein Thermometer und einen Sextanten auf die Antisana-Hochebene geschleppt, dazu ein Zyanometer, um die "Himmelsbläue" zu messen. Er füllte die eisige Luft in Fläschchen ab und stellte am lebenden Objekt fest, dass der Luftdruck so gering war, "dass die verwilderten Stiere, wenn man sie mit Hunden hetzt, Blut aus der Nase und aus dem Munde verlieren". Ähnlich erging es seinem Reisebegleiter Carlos Montúfar, obwohl nicht überliefert ist, dass die Hunde auch auf ihn gehetzt wurden. Besonders beeindruckt zeigte sich der Expeditionsleiter von den Kondoren, die damals wie heute ihre Kreise über dem Hochplateau drehen. Der Condor, notierte Humboldt, "scheint sein Respirationsgeschäft mit gleicher Leichtigkeit bei 28 und 12 Zoll Luftdruck zu vollenden!"

Im Jahr 2019 fährt man von der ecuadorianischen Hauptstadt Quito mit dem Auto eine staubige Schotterpiste bis zum Fuße des Antisana hinauf, immer entlang an einem erstarrten Lavastrom. Humboldt und seine Begleiter legten den Weg vor 217 Jahren zu Fuß und zu Pferde zurück, wobei der Wind so stark war, dass man sich kaum im Sattel halten konnte. Außerdem peitschen ihnen aus empirischer Sicht höchst interessante "Eisnadeln" in die Gesichter, vollkommen kristallisiert und deshalb "schneidender" als europäische Hagelkörner. Humboldts Forschungsinteresse galt nicht zuletzt seinen eigenen Wunden.

Auf dem dunkelgrünen Rasen vor dem weißen Berg steht eine Steinhütte mit Strohdach, so niedrig gedeckt, dass man nur gebuckelt eintreten kann. Den rußigen Innenwänden ist anzusehen, dass es hier im Lauf der Jahrhunderte mehrfach gebrannt hat. Dutzende zum Teil höchst seltene Vogelarten haben sich unter dem Dachgiebel eingenistet. Für Menschen scheint dieses Häuschen unbewohnbar zu sein. Neben dem Eingang hängt eine Plakette, die im März 2002 angebracht wurde. Darauf steht: "Vor 200 Jahren, an einem Tag wie heute, besuchte der glorreiche Wissenschaftler und wahre Entdecker Amerikas Alexander von Humboldt diesen Ort, um den Antisana zu besteigen und seine Geheimnisse zu ergründen."

Der Naturforscher Alexander von Humboldt in späteren Jahren. (Foto: mauritius images)

In seinen Aufzeichnungen erklärte Humboldt diese Hütte zu der "ohne Zweifel am höchsten gelegenen Wohnung der Welt". Er verbrachte hier eine der schrecklichsten Nächte seiner Südamerikareise. Es gab nichts zu essen und keine Kerzen, alle trugen nasse Kleider. Der Wind "heulte wie auf offenem Meere". Humboldt teilte sich sein Nachtlager aus Stroh mit Montúfar. "Der arme Junge hatte Bauch- und Brustschmerzen, eine Darmkolik." Am nächsten Morgen um acht Uhr brachen alle zusammen zum Gipfel auf. Der Antisana war der erste einer Reihe von ecuadorianischen Vulkanen, die Humboldt in Angriff nahm. Gegen alle Wahrscheinlichkeiten kam er jedes Mal lebendig wieder herab. "Das Wetter war nicht von der Art, um uns Hoffnungen zu machen", notierte er lakonisch. Und vermutlich hat man als Mensch des 21. Jahrhunderts keine Vorstellung mehr davon, wie kalt und eisig es damals im Steilhang gewesen sein musste, ohne Funktionskleidung. Der Antisana-Gletscher ist allein in den vergangenen zwanzig Jahren um 350 Meter geschmolzen. Am Ende des Schneefelds stand die Berggruppe plötzlich vor einer fast senkrechten Wand, die es unmöglich machte weiterzugehen. Bevor Humboldt umdrehte, stellte er noch einmal seine Geräte auf. Das Quecksilber im Barometer zeigte 14 Zoll, 11 Linien an, er befand sich folglich auf 5407 Metern über dem Meeresspiegel. Obwohl er den Gipfel des Antisana genau so wenig erreichte wie wenig später die des Cotopaxi und des Chimborazo, der beiden höchsten Berge Ecuadors, stieg Humboldt keineswegs frustriert hinab. Er war sich sicher, dass sich kein Mensch jemals so weit vom Mittelpunkt der Erde entfernt hatte.

Für eine komplette Sammlung seiner eigenen Bücher fehlte ihm das Geld

Für den gebürtigen Berliner war das keine Mutprobe, sondern eine notwendige Tat, um die Welt zu verstehen, indem er sie "von einem höheren Standpunkt aus" betrachtete. Was er damals als Erster verstand, prägt unser Weltbild bis heute.

Humboldts 1808 erschienenes Buch "Ansichten der Natur" verdeutlich seine Forschungs-, Denk- und Schreibweise. Über die Kondore am Antisana notierte er darin: "Es ist eine merkwürdige physiologische Erscheinung, dass derselbe Vogel, welcher stundenlang in so luftdünner Region im Kreise umherfliegt, sich bisweilen plötzlich zum Meeresufer herabsenkt und in einigen Stunden gleichsam alle Klimate durchfliegt." Seine Erkenntnis, dass die Erde über alle Kontinente hinweg in verschiedene Klima- und Vegetationszonen unterteilt ist, formulierte er hier wie eine Selbstverständlichkeit, dabei war sie damals radikal neu. Es war eine Theorie, zu der er nicht am Schreibtisch oder im Labor gelangen konnte, wo so viel anderes wegweisendes Wissen der Menschheit entstand. Bei dem preußischen Forschungsreisenden Humboldt führte der beschwerliche Weg zur Erkenntnis.

Am Fuße des Antisana wanderte er durch schwüle Täler, die er mit der "asiatischen Palmenwelt" verglich. Weiter oben sah er Eichen, Erlen und Berberitzen, die er aus europäischen Wäldern kannte. Als er die Baumgrenze passiert hatte, sammelte er Lupinen und Enziane und freute sich über den "schönsten Teppich aus Alpenpflanzen", bevor er noch weiter oben Flechten und Moose "wie aus Lappland" bestaunte. Humboldt wähnte sich in einem Mikrokosmos. In den Höhen der Andenvulkane ergab sich für ihn das Bild von einem "belebten Naturganzen", in dem alles seinen Platz und seine Bedeutung hat und alles mit allem zusammenhängt. Damit entwickelte er unser Verständnis von Ökosystemen, lange bevor der Begriff geprägt wurde. Die Historikerin Andrea Wulf nennt das in ihrem Standardwerk über Alexander von Humboldt "die Erfindung der Natur".

Eine Sache ist die Erkenntnis selbst, eine andere die Art, davon zu erzählen. Das hatte Humboldt bei seinem alten Freund Johann Wolfgang von Goethe in Jena und Weimar gelernt. Er verknüpfte seine Forschungsberichte deshalb bewusst mit persönlichen Empfindungen, mit Romantik, mit Dichtung und Kunst. In "Ansichten der Natur" setzte er sich damit auseinander: "Bei allem Reichtum und aller Biegsamkeit unserer vaterländischen Sprache ist es ein schwieriges Unternehmen, mit Worten zu bezeichnen, was eigentlich nur der nachahmenden Kunst des Malers darzustellen geziemt." Noch in Ecuador machte er sich deshalb ans Werk und fertigte eine erste Skizze seines "Naturgemäldes" an. Es zeigt den Chimborazo im Querschnitt und elf Klimazonen, die darauf von unten nach oben angeordnet sind. Der Chimborazo steht dabei nicht nur beispielhaft für allen anderen hohen Berge der Erde, sondern auch für die Erde selbst. Der Maler sprach von einem "Mikrokosmos auf einem Blatte". Bis dahin hatte die Wissenschaft die Natur in immer kleinere Kategorien klassifiziert, bei Humboldt passte alles Wesentliche in eine Zeichnung: die Biologie als ein System, die Natur als ein Netz.

Humboldt entdeckte Südamerika gewissermaßen mit den Augen Goethes, und der ließ sich vermutlich auch von Humboldts Reise zu seinem wichtigsten Werk inspirieren: "Ansichten der Natur" und der "Faust" erschienen im selben Jahr. Andrea Wulf weist zu Recht darauf hin, dass einer der berühmtesten Sätze, die Goethe seinem Faust in den Mund legt, ebenso gut von Humboldt stammen könnte: "Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält".

Ganz im Gegensatz zu Goethe hat es Humboldt nie in den Kanon der deutschen Klassiker geschafft. Er war ein Kind des 18. Jahrhunderts, das den Wissenschaftsbetrieb des 19. Jahrhunderts prägte und an der Schwelle zum 20. Jahrhundert nahezu in Vergessenheit geraten war. Auf einmal scheint er aber so aktuell zu sein wie noch nie. 2019 werden in Deutschland gleich zwei Humboldt-Jubiläen gefeiert: Sein 250. Geburtstag und sein Aufbruch zur Südamerikareise vor 220 Jahren. Begleitet wird dieses Festjahr von Publikationen, Lesereihen, Vorträgen, Symposien und Debatten, vor allem in Humboldts Heimatstadt Berlin. Was dabei überrascht, ist weniger die Entdeckung eines deutschen Nationalhelden, sondern die Tatsache, dass diese Entdeckung so lange auf sich warten ließ.

Alexander von Humboldt mit einem Begleiter am Fuß des Chimborazo (Gemälde von Friedrich Georg Weitsch). (Foto: akg-images)

In Lateinamerika war Alexander von Humboldt stets omnipräsent. Unzählige Straßen, Parks und Plätze sind dort nach ihm benannt, dazu ein Berg in Venezuela, ein Gebirge in Mexiko, ein Fluss in Brasilien, ein Geysir in Ecuador und der von ihm selbst entdeckte Humboldtstrom, der das Klima vor den Küsten von Chile und Peru bestimmt. Über weite Strecken des 19. Jahrhunderts war Humboldt ein internationaler Superstar, er war mit dem US-Präsidenten Thomas Jefferson so eng befreundet wie mit dem südamerikanischen Befreiungshelden Simon Bolívar. In Berlin lebte er in den letzten Jahren bis zum seinem Tod im Mai 1859 weitgehend verarmt in einer Mietwohnung in der Oranienburger Straße. Laut der Biografin Wulf besaß er nicht mal die vollständige Ausgabe seiner Bücher, weil ihm dafür das Geld fehlte.

Steinmeier erinnerte bei seiner Festrede in Quito daran, wie schwer es Humboldt in Deutschland hatte: "Keine zwölf Jahre nach seinem Tod hat man ihn weitgehend aus der nationalen Erinnerung verbannt." Als zu franzosenfreundlich, zu kosmopolitisch für das Deutsche Reich von 1871 habe er gegolten. Vielleicht mag auch eine Rolle gespielt haben, dass Humboldt nie verheiratet war, noch scheint er jemals intime Beziehungen gehabt zu haben, weder zu Frauen noch zu Männern. Gerüchte, er könnte schwul sein, gab es dennoch. Der Dichter Theodor Fontane war nach der Lektüre einer zeitgenössischen Humboldt-Biografie verärgert, dass dessen "sexuelle Uncorrectheiten" verschwiegen wurden.

Dort, wo er im 20. Jahrhundert überhaupt eine Rolle spielte, hat man ihn so umgedeutet, wie man ihn brauchte. Die Nationalsozialisten versuchten, ihn als Welteroberer und Herrenmenschen zu instrumentalisieren. In der DDR wurde er zum Vordenker des Sozialismus stilisiert. In Westdeutschland haben ihn viele als abenteuerlustigen Kräutersammler verkannt, dort stand er im Schatten seines staatstragenden Bruders und Bildungsreformers Wilhelm. Als zu Zeiten der Kohl-Ära verstärkt nach unbelasteten deutschen Nationalhelden gesucht wurde, fand man unter anderem die Fußballweltmeister von 1954, Alexander von Humboldt wurde übersehen. In der ZDF-Rankingshow "Unsere Besten - die 100 größten Deutschen" landete er 2003 auf Platz 61 - hinter Daniel Küblböck und dem Formel-1-Piloten Heinz-Harald Frentzen, aber immerhin knapp vor dem Tote Hosen-Frontmann Campino.

Vielleicht wäre die Zuschauerwahl im ZDF anders ausgegangen, wenn sie nach der Erscheinung von Daniel Kehlmanns Bestseller "Die Vermessung der Welt" 2005 stattgefunden hätte. Darin wurde Humboldt unter Einsatz von reichlich Klamauk wieder popularisiert - als ein verschrobener Wissenschaftler mit ebenso hellem Geist wie komplizierter Verdauung. Die gerade erst zum Leben erweckte seriöse Humboldt-Forschung blickt eher verächtlich auf den Kehlmann-Roman. Es geht hier schließlich um einen Mann, der unser Verständnis von der Welt revolutionierte, indem er in den kleinsten Details die großen Zusammenhänge erkannte, der Charles Darwin zu dessen bahnbrechender Evolutionstheorie inspirierte, der erkannte, dass Natur und Kultur untrennbar miteinander verbunden sind, und auf seiner Südamerikareise als einer der Ersten den menschengemachten Klimawandel beschrieb. Auf dieser Reise entwickelte er sich zu einem der damals schärfsten Kritiker der Sklaverei und des Kolonialismus. Für Humboldt gab es keine überlegenen Nationen, kein Recht der Europäer, andere Kontinente auszubeuten und keine Rechtfertigung, Menschen wie Tiere zu halten.

Alexander von Humboldt scheint geradezu der Prototyp des guten Deutschen zu sein, ein Kosmopolit, ein ökologischer Vordenker, ein begnadeter Dichter, ein Abenteurer, der sein Leben lebte, als ob er zehn davon hätte. Und die Antwort auf die Frage, warum das eine breite Öffentlichkeit im Jahr 2019 endlich wahrnimmt, findet sich wohl in der gegenwärtigen Weltnachrichtenlage. In Zeiten, in denen weder der Multilateralismus noch der Multikulturalismus mehr selbstverständlich erscheint, steht der radikale Multilateralist und Multikulturalist Alexander von Humboldt plötzlich wie ein Prophet da. Und wenn selbst der Präsident der Vereinigten Staaten den menschengemachten Klimawandel leugnet, obwohl wir längst auf einen Klimanotstand zusteuern, dann wirken die zwei Jahrhunderte alten Schriften Humboldts auf alarmierende Weise aktuell.

Er hat keinen Kontinent und kein physikalisches Gesetz entdeckt, so wie Christoph Kolumbus oder Issac Newton. Sein Verdienst beruht auf seiner Sicht auf die Welt, die er sich am Orinoco mühsam erpaddelte und am Antisana qualvoll erwanderte. Humboldt hat in Südamerika beschrieben, was diese Welt im Innersten zusammenhält. Wer ihn heute liest, versteht, wie schnell sie auseinanderfallen kann.

© SZ vom 09.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: