Akteneinsicht:An der Kette der Erinnerung

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Warum es dem Entführungsopfer wichtig ist, erneut Einblick in sein Empfinden zu geben. Jan Philipp Reemtsma sagt aus. Eine große Gerichtsreportage, die am 12. Januar 2001 in der SZ erschienen ist.

Von Reymer Klüver

Diese Reportage erschien 2001 auf der Seite Drei der Süddeutschen Zeitung . Als "Akteneinsicht" werden in den Feiertagsausgaben der SZ Berichte über große Prozesse der vergangenen Jahrzehnte nachgedruckt, versehen mit einer aktuellen Einordnung.

Kleine, weiße Karteikarten hat der Mann im gepflegten, grauen Dreiteiler vor sich liegen. Wie an der Uni, wenn er eine Vorlesung halten soll und die notierten Stichwörter als Gedächtnisstütze braucht, um den Fluss der Gedanken zu kanalisieren. Doch dies ist kein Vortrag, dies ist die Aussage eines Mannes, der sich zwingt, die schrecklichsten 33 Tage seines Lebens noch einmal, nun schon zum dritten Mal vor Gericht, darzustellen. Der sich zwingt, Rechenschaft abzulegen über seine Gedanken und Gefühle, über Todesangst und Hoffnung, Rechenschaft darüber, wie es ist, wenn man ohnmächtiges Opfer von Gewalt wird.

Eine Stunde lang sagt Jan Philipp Fürchtegott Reemtsma, wie er seinen vollen Namen bei der formal nötigen Feststellung seiner Identität angibt, an diesem vierten Verhandlungstag im Prozess um seine Entführung vor bald fünf Jahren aus. Wäre dies ein Western, würde man diese Konstellation jetzt das Shoot out nennen. Und so werden auch viele diesen Tag erwartet haben, das Finale eines fast fünf Jahre währenden Schurkenstücks, in dem allen Ausflüchten des Bösewichts zum Trotz endlich Waffengleichheit herrscht, sich Held und Halunke gegenüberstehen - und das Gute siegen wird.

(Foto: dpa, Collage: SZ)

Die Rollenverteilung wäre klar. Der Part des Übeltäters für den blassen, leicht untersetzten Mann, der betont lässig, wie immer, in den Gerichtssaal schlendert, die Hände in den Hosentaschen, und seinen Platz zwischen seinen Verteidigern einnimmt. Thomas Drach trägt an diesem Morgen dieselbe braune Lederjacke, die er schon am Tag seiner Auslieferung nach Deutschland, Ende Juli, auf dem Leib trug.

Doch Jan Philipp Reemtsma passt sichtbar nicht in die Rolle des edlen Helden, der das tut, was archaisches Gesetz verlangt. Da vorn, am Tisch des Nebenklägers, sitzt keiner, der Vergeltung will, der im alttestamentarischen Zorn Rache für erlebtes Unrecht nehmen will. Nein, es geht ihm ums Prinzip. Um das Prinzip, dass keiner sich die Macht herausnehmen darf, über das Leben des anderen zu entscheiden. Und darum, dass die durch Gewalt gestörte Ordnung wiederhergestellt wird.

Immer wieder von Ächzen begleitet, trägt er seine Erinnerungen vor. Seinen massigen Oberkörper beugt er mitunter vor oder zur Seite, als müsste er dem Sortieren seiner Gedanken auch körperlich Ausdruck verleihen. Seine Stimme stockt immer dann, und in diesen Pausen ist es mucksmäuschenstill im Gerichtssaal, wenn es um die marternden Gedanken geht, die er sich um seinen Sohn und seine Frau während der 33 Tage währenden Geiselhaft gemacht hat. Doch sonst berichtet er mit analytischer Unbestechlichkeit und Schärfe.

Der Angeklagte Thomas Drach sitzt am 13.Oktober 2011 im Saal 288 des Strafjustitzgebäudes des Landgericht Hamburg neben seinem Anwalt Hilfried Roubicek. Der Prozess gegen ihn hatte zunächst in Abwesenheit des Angeklagten begonnen, später wurde er später zwangsvorgeführt. (Foto: dpa)

Berichtet fast nebenbei die Brutalität des Überfalls vor seinem Wohnhaus, bei dem sein Kopf mit einer solchen Gewalt gegen eine Mauer geschleudert wurde, dass sein Nasenbein brach und Schneidezähne absplitterten. Doch der nüchternen Schilderung des Geschehens folgt gleich die gedankliche Einordnung: "Das war vielleicht gut, Angst und Schmerz, das eine hebt das andere auf." Überhaupt ist es nicht so sehr die Rekonstruktion des Verbrechens durch das Opfer, die Reemtsmas Aussage so bedeutsam für das Verfahren macht. Es ist vielmehr die Darstellung der Gedanken, die er sich als Geisel, im Keller angekettet wie ein Gefangener im Mittelalter, gemacht hat - und die ihn bis zum heutigen Tage nicht loslassen.

Eine Ahnung davon, was dieser Prozess wieder in diesem so ruhig und konzentriert wirkenden Mann aufwühlt, bekommt der Außenstehende gleich zu Beginn der Aussage Reemtsmas, der als Nebenkläger die ganze Verhandlung verfolgt hat. Und mitbekommen hat, dass Drach nicht das geringste Bedauern über die Tat zeigt, sondern als einziges dem Gericht mit dem Hinweis auf angeblich unmenschliche Haftbedingungen in Argentinien eine Reduzierung der Höchststrafe abtrotzen will. Der erlebt hat, wie sich der zu zehneinhalb Jahren Haft verurteilte Mittäter Wolfgang Koszics in seinen Zeugenaussagen als Gentleman-Ganove inszeniert, dem jegliche Brutalität fremd ist. Nach all diesem scheint es Reemtsma jedenfalls ein Anliegen zu sein, Einblick in sein Empfinden zu geben. Und so sagt er, dass er diesen Prozess eigentlich nur mit einer Hilfskonstruktion ertragen kann: "Wenn man den Gedanken klein hält, dass es das eigene Leben gewesen ist, mit dem in jeder Hinsicht gespielt worden ist."

Mit diesen Fotos suchte die Hamburger Polizei die Komplizen Drachs und mutmaßlichen Entführer von Jan Philipp Reemtsma: Peter Ernst Adolf Richter (links) und Wolfgang Koszics (rechts). (Foto: picture-alliance/dpa)

Es ist eine penible gedankliche Genauigkeit, um die sich Reemtsma in seinen Schilderungen bemüht, auch die der Ängste, die ihn ständig quälten. Vielleicht, so sagt er, sei es für das Gericht von Interesse, "aus Sicht einer Geisel zu erfahren, wo das Verbrechen eigentlich sitzt". Es sei gar nicht so sehr die Angst vor dem "irgendwie für wahrscheinlich erachteten Fall des Todes", wie er sagt. Da könne man versuchen, "in sich eine Haltung zu erzeugen, in der man mit dem Leben abschließt". Ungleich schlimmer, so sagt er nun, und wieder stockt die Stimme, sei das Gefühl der ständigen Unsicherheit, das Gefühl, der Willkür eines Mannes ausgesetzt zu sein, "der sich das qua Machtstellung einfach anmaßt". Bizarr sei das gewesen. Bizarr, dieses Wort verwendet Reemtsma immer wieder, um seine Situation im Keller zu beschreiben. Gewiss, es sei nur ein läppisches Beispiel, sagt er, aber normalerweise sei ihm in sein Kellerverlies immer um acht Uhr morgens Frühstück gebracht worden. Immer pünktlich. Manchmal aber sei es halb neun geworden, neun oder zehn Uhr. Und sofort seien in ihm die Gedanken hochgekommen, dass dies der Moment sei, den ihm die Entführer immer angedroht hätten: dass sie ihn angekettet und unversorgt zurücklassen würden.

Dass er nun mit seinem Leben abschließen müsse. Und dann seien diese Gedanken auf Leben und Tod auf einmal der Lächerlichkeit preisgegeben gewesen, wenn um halb elf das Frühstück kam. "Und es lag nur daran, dass der Zuständige ein bisschen länger schlafen wollte."

Nur dass er das nie wissen konnte, sondern immer mit dem Äußersten zu rechnen hatte.

Was diese Tage in dem Mann ausgelöst haben müssen, lässt sich an den Reflexionen ablesen, die er nun im Gerichtssaal über seine Gedanken während seiner Zeit an der Kette macht. Es sei "im Nachhinein interessant" zu beobachten, "wie zerstörerisch Hoffnung sein kann". Wobei er sich sofort korrigiert: Interessant sei sicherlich nicht das richtige Wort, um diesen Vorgang zu beschreiben. Im Keller haben sie diesem Mann nicht nur die Freiheit geraubt, sie haben ihm auch sozusagen das Wissen der Hoffnung genommen: In den 33 Tagen der Geiselhaft habe er erfahren, sagt Reemtsma, "dass die Abstürze, die man nach einer enttäuschten Hoffnung erlebt, das Schlimmste sind".

Das von der Polizei geblendete Polaroid-Foto zeigt Jan Philipp Reemtsma bei seinen Entführern mit einer Ausgabe der Bild-Zeitung vom 26. März 1996. Das Foto wurde den Angehörigen als Lebensbeweis übermittelt. (Foto: dpa)

Aber auch über den Angeklagten habe er in dieser Zeit sehr viel gelernt. Ihm sei damals "dieses Oszillieren zwischen Selbststilisierung und Larmoyanz" aufgefallen. Diesen Charakterzug habe er bei dem Angeklagten zweifelsfrei jetzt wiedererkannt. Ja, stets sagt er nur "der Angeklagte", nie nennt er ihn beim Namen. Als sei dies ein Mittel, sich von dem Menschen zu distanzieren, in dessen Hand er 33 Tage war und der nun, ohne große Zeichen von Bewegtheit, fünf Meter von ihm entfernt sitzt. Nur einmal kommt es tatsächlich zu einer Art Duell, als sich Reemtsma auf einen Wortwechsel mit Drach einlässt.

Und auch der ist bloß Zeichen dafür, wie traumatisiert dieser Mann, der das Geschehen mit seinen Gedanken bis ins letzte Detail durchdrungen zu haben scheint, in Wahrheit noch immer ist. Er bittet das Gericht, Drach nach einem Detail zu befragen, das er bis heute nicht verstehe: Woher der Angeklagte die Einschätzung seiner Frau gekannt habe, er sei Opfer eines Einzeltäters geworden. Das habe sie nur der Polizei mitgeteilt.

Drach antwortet sofort, aggressiv, wie immer: "Woher soll ich wissen, was Ihre Frau der Polizei gesagt hat?" - "Ich weiß ja nicht", antwortet Reemtsma, "welche Kontakte Sie noch sonst wohin haben." Aufklärung erfährt er nicht.

Jan Philipp Reemtsma (links) sitzt mit seinem Anwalt Johann Schwenn vor dem Hamburger Landgericht (Foto vom 02.01.01). (Foto: DDP)

Es war in der Süddeutschen Zeitung, der Reemtsma das erste Interview nach seiner Freilassung gewährte, wo er einen Gedanken formuliert hat, den er fortan immer wieder artikulierte, in Reden und Aufsätzen, in seinem Buch "Im Keller". In ihm bemühte er sich, diesen 33 Tagen in Gefangenschaft eine Ordnung zu geben, der monströs wuchernden Erinnerung dadurch Grenzen zu setzen, indem er seine Gefühle schilderte und seine Reflexionen darlegte.

Es war, schlicht gesagt, auch ein Versuch, sich selbst zu befreien - und sei es von der gedanklichen Fixierung auf diese Zeit.

Also bereits eine Woche, nachdem er von der Kette gelassen worden war, man muss es wohl so sagen, um zu verstehen, dass seiner Befreiung nicht ein Glücksrausch folgte, sondern die Erkenntnis, für den Rest den Lebens gezeichnet zu sein, also eine Woche nach der Freilassung formulierte Reemtsma bereits, "dass für das Opfer eines solchen Gewaltverbrechens die Bestrafung der Täter sehr wichtig ist, um etwas an dem Stück Welt, das kaputtgegangen ist, wieder in Ordnung zu bringen".

Nun hat er versucht, seinen Beitrag dazu zu leisten.

Das haben offenbar auch Drachs Verteidiger so gesehen. Sie verzichteten auf Fragen an Reemtsma mit dem bemerkenswerten Satz: "Unser Mandant möchte die Schilderung des Opfers so hinnehmen und ihm keine weiteren Fragen zumuten."

© SZ vom 31.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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