Afghanistan:Das bist nicht du

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Viele Frauen versuchen den Ausbruch aus der erstickenden Tradition. Sie stehen für eine neue Zivilgesellschaft - und haben es schwer, sehr schwer. Drei Beispiele.

Von Joachim Käppner

Wenn Soraya Alekozei an das Afghanistan ihrer Kindheit zurückdenkt, schildert sie ein Land wie aus den wehmütigen Romanen von Khaled Hosseini: ein Leben ohne Angst, der Garten in Kabul, die abendlichen Gespräche mit Vater und Mutter über Dichter und Poesie. Die Schönheit des Landes, seine Vielfalt, die Offenheit. Als Mädchen trug sie kurze Röcke, Plateauschuhe und westliche Sonnenbrillen, so groß, das die Mutter spottete: "Die verdecken ja mehr von deinem Gesicht als eine Burka."

Soraya Alekozei wurde 1955 geboren, und ihr Afghanistan, jenes einer Bürgertochter, war nicht das der Frauen in den Bergdörfern, gewiss. 1979 kamen die russischen Panzer und der Krieg. Die Russen sind lange fort, es kamen die Warlords, die Taliban, die Nato; der Krieg ist geblieben. Und das Leid der Menschen, besonders der Frauen, die von islamistischen Taliban zu Menschen zweiter Klasse degradiert wurden. Unter der Herrschaft der Gotteskrieger, bis 2001, war Afghanistan, wie das Magazin Newsweek schrieb, "der schlechteste Platz der Erde für Frauen".

"Du kommst heim, mit einem Gewehr über der Schulter . . ."

Provinz Balkh, Nordafghanistan. Der Steilpass kommt hoch herein, die Abwehr reagiert nicht schnell genug, ein Kopfball ins linke Eck - Tor. Am Maschendrahtzaun hinter dem Platz jubeln und johlen ein paar Jugendliche. Alles ist wie überall auf der Welt: Fans, rufende Trainer und ein paar Fußballväter, die am liebsten allen mal zeigen würden, wie man einen Ball behandelt. Und alles ist ganz anders. Auf dem Platz stehen Spielerinnen mit Kopftuch, die Mannschaft in Orange hat sogar eine Stürmerin mit offen wehendem Pferdeschwanz. Sie ist der Star für die halbwüchsigen Jungs am Rande, für den Trainer aber ist der Star eine andere: Nesrin. Die 16-jährige Tadschikin ist auf den ersten Blick als Begabteste ihrer Mannschaft zu erkennen, schneller, ballsicherer, eine Anführerin.

Vor der Sportanlage stehen zwei Wächter mit Kalaschnikows und mustern die staubige Straße, in der es Buden, Brachflächen, neue Werkstätten gibt; die Autofahrer umkurven gekonnt die Schlaglöcher und schauen neugierig herüber. Was sie sehen, ist für Afghanistans sich langsam wieder entwickelnde Zivilgesellschaft noch immer eine Sensation: Frauenfußball.

Beim Gespräch mit Nesrin steht ihr Vater dabei, ein hochgewachsener Mann mit dunklen, wachen Augen. Nesrin spielt seit vier Jahren und ist großer Fans der Champions League: "Barcelona, Bayern!" Ihre Freundinnen nicken. Sie sehen alle großen Spiele - "im Satellitenfernsehen, da treffen wir uns", sagt sie und lacht. Demnächst ist sie bei der Frauen-Nationalmannschaft eingeladen. Vielleicht, wenn alles gut geht, wird sie einmal im Kabuler Ghazi-Stadion spielen, in dem die Taliban einst ihre Opfer auspeitschten.

Mädchenfußball in Balkh: Doppelpass mit Kopftuch - für die Taliban schon ein Verbrechen. Fotos: Björn Kietzmann (2), Sebastian Wilke (Foto: Chris Grodotzki)

Gewiss, die Nato, die USA sind nach 9/11 nicht in den Krieg an den Hindukusch gezogen, um die Frauen Afghanistans zu befreien. Für die Gegner des Einsatzes war dies stets ein Argument, und nicht einmal ein falsches: "2001 wurde die Befreiung afghanischer Frauen zu einer Rechtfertigung der Bush-Administration für die Invasion", schreibt die in Afghanistan aufgewachsene Frauenrechtlerin Jennifer Heath in ihrem Buch "Land of the Unconquerable". Andererseits hat sich die Lage der Frauen im Land seither eindeutig verbessert. Es gibt gar nicht so wenige Frauen im Parlament, die Verfassung garantiert seit 2004 volle Gleichberechtigung. Millionen Mädchen durften wieder zur Schule gehen, es gibt Studentinnen und weibliche Angehörige der Sicherheitskräfte. Ein Gesetz gegen häusliche Gewalt soll Frauen beschützen.

Das sind, verglichen mit dem psychopathischen Genderterror der Talibanjahre, beeindruckende Fortschritte. Die Taliban, die von Pakistan aus und in den Hauptkampfgebieten Südafghanistans den Krieg weiterführen, reagierten mit Terror aus dem Untergrund gegen Frauen. Im Internet kursieren entsetzliche Videos von der Steinigung angeblicher Ehebrecherinnen; es gab Sprengstoffanschläge auf Mädchenschulen. Der 18-jährigen Bibi Aisha schnitten die Fundamentalisten, die sich auf Gott berufen, die Nase ab, weil sie vor ihrem prügelnden Mann weggelaufen war; das Foto ihres verstümmelten Gesichts ging um die Welt, in den USA gelang plastischen Chirurgen ein kleines Wunder, als sie es wiederherstellten. Der mutigen Schülerin Malala Yousafzai schossen die Taliban in Pakistan in den Kopf, weil sie für das Recht der Mädchen auf Bildung eintrat. 2014 erhielt sie, erst 17 Jahre alt, den Friedensnobelpreis.

Die Botschaft der Attentäter an die Afghaninnen war stets: Wir werden zurückkommen, und dann hilft euch niemand.

Das wäre das Szenario des schlimmsten Falls. Als ob die Gegenwart nicht schlimm genug wäre. Afghanistan gleicht einem verzogenen alten Spiegel: Je nachdem, aus welchem Blickwinkel man hineinsieht, ändert sich das Bild; was eben noch groß erschien, ist dann klein. Das gilt für die Sicherheit wie für Fortschritte der Gleichberechtigung. Das Anti-Gewalt-Gesetz wird sehr oft einfach nicht umgesetzt. Nach Untersuchungen der UN sollen weiterhin 90 Prozent afghanischer Frauen körperliche oder seelische Gewalt erleben. Mehr als zwei Drittel der Mädchen, so schätzt die Menschenrechtskommission des Landes, werden immer noch von den Eltern verheiratet.

Und doch, viele wollen nicht mehr schweigen und erheben die Stimme. Etwa bei den beliebten Gedichtsendungen im Radio, die nicht nur Unterhaltung sind, sondern ein Ort, gesellschaftliche Botschaften an andere Frauen zu schicken, etwa über die Männer, gleich welcher Seite, die der ewige Krieg für immer verändert hat:

"Du kommst heim

mit einem Gewehr über der Schulter,

um mich zu grüßen,

in Lumpen gekleidet,

Geschützt: Arbeiterinnen in der Seidenfabrik von Masar-i-Scharif. (Foto: N/A)

ganz verwandelt -

das bist nicht du."

Viele kamen gar nicht mehr heim. Avas Ehemann saß 2008 in einem Pick-up, den eine IED der Taliban zerfetzte, eine Sprengfalle; er war Soldat der ANA, der afghanischen Nationalarmee. Avas Spitzname, als sie ein Kind war, hieß "Blume", aber sie ist eine sehr traurige Blume geworden; jedenfalls war sie das, lange Zeit. "Ich war noch sehr jung, als ich verheiratet wurde", sagt sie, "erst 16 Jahre." Sie ist heute 26 und hat vier Kinder.

Nach dem Tod ihres Mannes beantragte sie Witwenrente. Irgendjemand hat das Geld auch genehmigt, aber sie erhielt es nie, sagt sie: "Die nächste Stelle hat mir dann gesagt, ich habe kein Recht, die Rente zu bekommen, weil mein Mann an dem Tag, an dem er auf die IED fuhr, schon außer Dienst war." Korruption und Willkür, zwei Erbübel der afghanischen Bürokratie. Und so saß sie da, eine junge Mutter mit vier kleinen Kindern, ohne Geld. Die Familie des toten Soldaten half wenig. Ihre Herkunftsfamilie wollte nichts von einer männerlosen Frau wissen, die auf Zuwendungen angewiesen war. Avas Gesicht verliert seinen Gleichmut, sie sprüht vor Zorn: "Als Mädchen bist du bei uns allein, wenn du geheiratet hast. Dann gehörst du zur Familie des Mannes."

Sie verbrauchte alle Ersparnisse und verkaufte ihre Habseligkeiten: den wenigen Schmuck, ein paar Wertgegenstände - "und am Ende alle unsere Töpfe, bis auf einen." Und dann gab ihr ein mitleidiger Nachbar einen Tipp: Versuche es bei der Seidenfabrik.

Masar-i-Scharif, eine Vorortstraße, hohe Lehmmauern, verschlossene Tore, kein Schild, kein Hinweis. Ein bewaffneter Mann sitzt im Vorhof und bewacht das Tor, sonst gibt es hier nur Frauen. Rabia M., eine Frau mittleren Alters mit Designersonnenbrille und Pelzkragen, Insignien neuen Wohlstands, mag nicht wie ein Gender-Vorbild erscheinen. Aber sie leitet die Seidenfabrik, die ein Vorzeigeprojekt wurde, beschäftigt 100 Frauen, die in zwei Schichten hochwertige Seidenschals, -tücher und -kleider herstellen, nach den alten Methoden, wie aus Zeiten der legendären Seidenstraße. Hinzukommen, sagt Frau M., rund 2500 Jobs, "meist für Frauen, bei unseren Zulieferern".

Das Besondere an der Seidenfabrik ist, dass fast alle Arbeiterinnen auf eine gebrochene Biografie zurückblicken. Ava spricht offen: "Zum Glück haben wir hier drinnen eine Frauengesellschaft. Wir alle wissen, was der Krieg für uns bedeutete. Draußen hast du als Witwe das schlechteste Los, alles, was du tust und sagst, wird durch den Dreck gezogen." Es ist eine harte Welt, aber Ava hat ihren Weg gemacht: "Ich kann jetzt die Zukunft meiner Kinder garantieren, ich bin nicht abhängig. Und ich werde es nicht wieder sein, solange ich Kraft habe."

"Am Ende sind wir alle Opfer", sagt Soraya Alekozei über die Menschen Afghanistans. 2011 wurde die Dolmetscherin bei einem Anschlag schwer verletzt. (Foto: N/A)

Die Männer haben sich gegenseitig erschossen oder in die Luft gesprengt. Ihre Witwen fangen gemeinsam neu an. Die Vergangenheit lassen sie ruhen.

Das Geschäft läuft eigentlich gut, sagt die Chefin, aber 2014 "gingen die Umsätze zurück. Die Leute halten ihr Geld lieber beisammen. Sie warten ab, wie sich die Lage entwickelt." Die fremden Soldaten sind fort, jedenfalls ihre Kampftruppen. Aber das große Nato-Camp zwischen der Stadt und den Bergen ist immer noch da. 12 000 von ihnen sind als Ausbilder und Berater geblieben.

"Viele Männer fürchten die neue Freiheit der Frauen. Sie kommen damit nicht zurecht."

Soraya Alekozei ist eine jener Afghaninnen, die sich von den Fremden wirklich etwas erhofft haben - so viel, dass sie bereit war, sie aktiv zu unterstützen. Sechs Mal ging sie als Dolmetscherin für die Bundeswehr zurück in die Heimat, die sie Weihnachten 1979, beim Einmarsch der sowjetischen Truppen, jählings verlassen hatte. Diese waren gekommen, um das wankende sozialistische Marionettenregime zu retten, das Sorayas Mann Wali auf eine Säuberungsliste gesetzt hatte. Afghanistan veränderte sich, "leise und bösartig wie ein Tumor, der nahezu unbemerkt weiterwucherte", schreibt sie in ihrem zutiefst menschlichen, eindrucksvollen Buch "Sie konnten mich nicht töten" (Econ 2014).

Denn versucht haben sie es. Vier Jahre ist das her.

Der 28. Mai 2011: Soraya Alekozei trägt die Uniform der Bundeswehr; sie dolmetscht für Generalmajor Markus Kneip. Mit dem Helikopter fliegen sie in die Provinzhauptstadt Talokan. Sie sieht die sanfte Landschaft, die von oben so friedlich erscheint. Der Reformpolitiker und Polizeigeneral Daud Daud, unter dem legendären Guerillaführer Ahmed Schah Massoud einer der Helden des Widerstands gegen die Sowjets und später gegen die Taliban, empfängt die Deutschen in der Gouverneursresidenz; seinen Leuten ist es zuletzt mit Hilfe der Nato gelungen, die Gotteskrieger in die Defensive zu drängen. Aber geschlagen sind sie nicht, sie waren es nie.

Soraya Alekozei trägt keine Splitterschutzweste an diesem Tag, ein Gebot der Etikette im Haus von Freunden. Sie hört noch, wie jemand ihren Namen ruft, es soll weitergehen. Dann wird es Nacht um sie.

Die Sprengladung ist mit kleinen Stahlkugeln gespickt, die Wucht der Explosion schleudert Soraya Alekozei an die Wand. Zwei Personenschützer Kneips sterben, Daud Daud ist sofort tot. Kneip überlebt schwer verletzt, seine Dolmetscherin nur mit knapper Not. Ein Kantholz hat sich in ihren Schädel gebohrt, im Koblenzer Bundeswehrkrankenhaus ziehen die Ärzte ihr später mehr als hundert Metallsplitter aus dem Körper.

"Sie konnten mich nicht töten" heißt der Titel von Soraya Alekozeis Buchs. (Foto: N/A)

Vier Jahre und 30 Operationen später sitzt Soraya Alekozei in einer kleinen Stadt am Rhein und denkt über ihr Leben nach. Sie wird nicht mehr arbeiten können wie einst, aber ihr Geist ist ungebrochen. Sie wird nie wieder diejenige sein, die sie einmal war: voller Idealismus, Lebensfreude, Energie. Aber sie lebt - voller Zweifel, dass alles gut werde mit ihrem geschundenen Land und seinen Menschen. "Wir sind", sagt sie, "am Ende alle Opfer, auch die Taliban. Viele von ihnen sind Waisen, sie wurden zum Hass erzogen, sie haben nie die Liebe kennengelernt." Was kann man dagegen tun? Sie weiß es nicht.

Die Frauen haben Angst, sagt Soraya Alekozei, Angst davor, dass der Krieg immer weitergeht, dass die Taliban zurückkommen an die Macht oder die Warlords der Stämme und Fraktionen. Vor allem aber haben sie Angst vor der Angst der Männer.

"Viele Männer", sagt sie, "fürchten die neue Freiheit der Frauen. Sie kommen damit nicht zurecht. Alles ist so unsicher, die Wirtschaft, die Zukunft, und jetzt auch noch das." Frauen, die gleiche Rechte fordern und infrage stellen, Männer, die sich in die falsche Sicherheit dieser frauenfeindlichen Traditionen flüchten, die nicht wissen oder nicht wissen wollen, "dass die Unterdrückung von Frauen nicht der Islam ist, auf den sie sich berufen".

Manchmal sieht sie solche Männer auch in Deutschland. Junge Kerle, haltlos, aber mit aufgesetzter Überlegenheit, Möchtegern-Dschihadisten. Sie würde sie am liebsten schütteln.

Aber sie hat auch Afghanistans First Lady gesehen, neulich im Satellitenfernsehen. Rujla Ghani, Gattin des 2014 demokratisch gewählten Präsidenten Aschraf Ghani, rief ihr Land dazu auf, den Frauen mehr Rechte zu geben. Doch, sagt Soraya Alekozei: "Die Hoffnung ist noch da."

Wenn die Stürmerin aus Nesrins Fußballteam lässig zwei Verteidigerinnen ausdribbelt und den Ball ins Tor drischt, weht ihr schwarzer Zopf. Sie ist die einzige, die ohne Kopftuch spielt. Oder besser: Sie hat es so klein gefaltet, dass es kaum noch zu erkennen ist und aussieht wie ein cooles Stirnband, so wie es jetzt viele Fußballerinnen bei der Frauen-WM tragen. Ein afghanischer Kompromiss: Ganz lösen kann sich eine junge Frau aus den bedrückenden Regeln der Vergangenheit noch nicht - aber im Einzelfall kann es genügen, wenn sie den Anschein wahrt. Sie hat auch eine Botschaft: Ich lasse mir mein Leben nicht vorschreiben; nicht von euch.

© SZ vom 13.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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