Der Star schläft, möchte man meinen. Doch das will sein Trainer nicht hören. "Er ist hellwach und freut sich auf das nächste Rennen", sagt Harmander Singh. Sein Schützling sieht nicht so aus, als freue er sich: Die Arme verschränkt, den in einen dunkelblauen Turban gewickelten Kopf nach vorne geneigt, sitzt Fauja Singh im Foyer eines Frankfurter Hotels. Seine Augen sind geschlossen. Vor zwei Wochen ist er als erster Hundertjähriger einen Marathon gelaufen. Die Erschöpfung hängt ihm nun in den Knochen, kann man sagen, deswegen macht er jetzt einen Mittagsschlaf, auch das könnte man sagen, wenn es sein Trainer denn erlauben würde.
"Er sagt, dass er sich über seine Leistung freut und über die vielen Menschen, die sich mit ihm freuen", sagt Harmander Singh über Fauja Singh, der noch gar nichts gesagt hat. Er öffnet erst jetzt seine Augen. Die dürren Kenianer, die hier beim Frankfurt-Marathon am Ende um den Sieg gelaufen sind, kichern und tuscheln, sie zeigen mit dem Finger auf den Marathon-Opa. Seine Statur ähnelt der ihren: schmal, klein, Oberschenkel dünner als die Arme manch eines gut genährten Zeitgenossen. Doch Fauja Singh ist alt, seine Muskeln sind schwach. Für 42 Marathonkilometer braucht er fast sechs Stunden mehr als sie.
"He is just amazing"
Die Blondine mit der engen Hose und dem breiten Lächeln will dennoch unbedingt ein Foto mit ihm. "You are sooo fantastic", sagt sie und Fauja Singh nickt. Er streicht seinen grauen Vollbart glatt, grinst in die Kamera. Der alte Mann schaut seinem Fan noch lange hinterher und sagt: "Warum ist die nicht schon gekommen, als ich 20 Jahre alt war!"
In der Laufszene ist Fauja Singh schon seit Jahren bekannt. 2000 lief er in London seinen ersten Marathon, berühmt gemacht hat ihn jedoch sein achter. Vor zwei Wochen war das, in Toronto. In kleinen, schnellen Schritten, den Oberkörper meist gebückt, die Augen auf den Asphalt gerichtet, lief er 42,195 Kilometer durch die kanadische Metropole. Er brauchte 8 Stunden, 25 Minuten und 16 Sekunden. Der 3850. Platz. "Das zu schaffen, ist so, wie noch einmal zu heiraten" sagte Fauja Singh. Weltweit feierten Zeitungen den "Tornado mit Turban". Auch in Frankfurt, Singhs erstem Rennen nach Toronto, haben sich Dutzende Journalisten angemeldet, dabei läuft er hier gar nicht die volle Distanz. Egal, sagt ein BBC-Journalist, "he is just amazing". Eine französische Reporterin schwärmt: "Ich liebe ihn." Sie macht Singh sogar einen Heiratsantrag. Er lehnt ab, sie küsst ihn trotzdem und er langt ihr dafür mit zittrigen Bewegungen unters T-Shirt. "Er nennt mich Baby", erzählt sie später stolz, doch da ist Fauja Singh schon auf der Strecke.
Bei Kilometer 36 steigt er ein, trabt los, klatscht Fans ab und winkt in die Menge, schon ist er im Ziel. Eine "nette kleine Jogging-Runde" sei das gewesen, sagt er, nichts im Vergleich zur Leistung der Profis. Und dennoch wollen sie alle nur ihn sprechen.
Im Hotelfoyer umringen Journalisten seinen Trainer Harmander Singh. Der Mittfünfziger ist ein kleiner Mann, über dem Bauch spannt ein T-Shirt mit der Aufschrift "Sikhs in the City". Er hat sichtlich Spaß, die Meute zu bedienen. "Sagt uns, was ihr braucht und ihr bekommt es." Fauja Singh selbst schweigt. Er spricht nur wenige Brocken Englisch, Harmander Singh müsste ihm jede Frage in Panjabi übersetzen. Das hat der Trainer offenbar aufgegeben. Denn Fauja redet nicht viel und wenn er spricht, "dann sagt er immer: ja". Er lässt sich vor den Limousinen eines Rennsponsors fotografieren, zieht die roten Schuhe eines Sportartikelherstellers an, streift sich die Trainingsjacke mit der aufgedruckten "100" über. Immer sagt er ja. Geld bekommt er dafür nicht, sagt Harmander Singh. "Er macht es, weil es ihm Spaß macht, weil er die Aufmerksamkeit liebt."
Wie wäre es also mit einem Interview? "Gerne". Fauja Singh setzt sich, kratzt an seinem Turban - und sagt erstmal nichts. Dafür spricht Harmander Singh. Er ist gläubiger Sikh, und wie Fauja verwendet er den Familiennamen Singh aus religiösen Gründen, ist aber nicht verwandt mit ihm. Für Fauja Singh ist er Trainer, Freund und Übersetzer - letzteres jedoch auf seine ganz eigene Art: Fauja Singh spricht einen Satz und Harmander Singh macht daraus zehn.
Er erzählt, wie Fauja am 1. April 1911 in der britischen Kronkolonie Indien geboren wurde, wie er als Bauer einen kargen Lebensunterhalt verdiente, wie seine Frau starb, wenig später sein Sohn Kuldip. "Er starb vor seinen Augen bei einem Unfall", sagt Harmander Singh. Der Witwer wurde depressiv. "Er hat sogar an Selbstmord gedacht".
Keine Geburtsurkunde, aber eine Gratulation der Queen
Stattdessen jedoch zog Fauja Singh Mitte der 1990er Jahre in einen Vorort im Osten Londons, zu seinem jüngsten Sohn - und fing an, gegen andere Sikh-Senioren Wettrennen zu laufen. "Wenn er dachte, einer von ihnen könnte ihn schlagen, hat er einfach die Distanz erhöht", sagt Harmander Singh und wartet erstmal, ob die Pointe angekommen ist.
Ist sie, also erzählt Harmander Singh weiter: Von Fauja Singhs erstem Marathon, seiner bisherigen Bestzeit (5 Stunden, 40 Minuten, mit 92 Jahren) und "dieser Sache" mit dem Guinness-Buch. Um in das Buch der Rekorde aufgenommen zu werden, verlangten die Macher von Fauja Singh eine Geburtsurkunde. "Die hat er aber nicht, sowas gab es 1911 in Indien noch nicht." Singh hatte nur seinen Pass und ein Gratulationsschreiben der Queen zum 100. Geburtstag. Das war Guinness aber nicht genug. Fauja Singh war's egal. "Ich will einfach nur laufen", sagt er, "denn sobald ich damit aufhöre, werde ich sterben."