Zwillinge:Spiegel in Splittern

Lesezeit: 4 Min.

Ein Krimi aus Mexiko, von Vicente Alfonso, über den Spiegel der Erinnerung, Schuld und Sühne, Remo und Romulo.

Von Rudolf Neumaier

Es hat genauso übel angefangen, wie es ausgegangen ist mit Remus und Romulus. Schulkindern wird aber meistens nur die schönere Hälfte der Geschichte erzählt: dass die Zwillingsbrüder auf dem Tiber ausgesetzt werden und eine Wölfin sie säugt. Dann gründen sie Rom. Nun zum unappetitlichen und landläufig ausgeblendeten Teil der Legende: Remus und Romulus sind Früchte einer Vergewaltigung, ihr Vater Mars ist über eine Priesterin hergefallen. In ihrer Jugend sind die Burschen ziemlich aggressiv, und als sie den Grundstein für die Stadt legen, ermordet Romulus seinen Bruder. Wenn Zwillinge ein Problem miteinander haben, kracht's richtig.

Der mexikanische Schriftsteller Vicente Alfonso, Jahrgang 1977, hat sich etwas dabei gedacht, als er seinen Hauptfiguren die Namen Remo und Rómulo gab. Er spickt seinen Kriminalroman mit solchen Scheinzitaten und Verweisen in die Geschichte. Als Leser bleibt man wachsam: Haben diese Andeutungen etwas zu sagen? Sind sie die Schlüssel für Lösungen der Fälle? Schon im Titel kommt ein Heiliger vor, der Märtyrer Laurentius, im Deutschen Lorenz, im Spanischen Lorenzo. Er weist eine grandiose Leidensgeschichte auf, die ebenfalls in Rom spielt. Lorenz soll im wahrsten Sinne des Wortes gegrillt worden sein, weil er dem Kaiser Kirchenschätze vorenthielt. Heilige wie er und überhaupt die katholische Kirche geben immer gute Nebendarsteller ab.

(Foto: N/A)

Vicente Alfonso hat sein Buch "Die Tränen von San Lorenzo" genannt. Eine Episode seiner Geschichte spielt sich am Rande des San-Lorenzo-Festes in einem Dorf mitten im mexikanischen Binnenland ab, in einer Gegend, in der Wein ebenso gedeiht wie der Aberglaube der Menschen.

Gibt es Wunder? Ist etwas dran an der Religion? Darüber kann man zum Trinker werden

Die eineiigen Zwillinge Rómulo und Remo Ayala sind ohne Mutter aufgewachsen. Die Frage nach ihrer Existenz entwickelt Vicente Alfonso zu einem der großen Rätsel seines Romans. Eine Wölfin war es jedenfalls nicht, die sich um die beiden Buben gekümmert hat, sondern ihr Vater, ein älterer Herr, glänzender Jurist, Richter von Beruf. Als die Zwillinge volljährig werden, befindet er sich schon im Ruhestandsalter. Zur Erziehung hat er sie in die Obhut eines Jesuiten-Internates gegeben. Aber was heißt hier Obhut? Die Knaben wachsen dort mit Erotik-Heften und Pornofilmen auf, die sie auf der Toilette und in einem Geheimstudio mit Videorekorder genießen. In diesem Klassenzimmer wird nachts Pater Horacio Pérez Vargas mit einem seiner Zöglinge erwischt, auf der Leinwand läuft ein Film, in dem gerade zwei Frauen zärtlich zueinander sind, und die Kleidung des Jungen ist zerrissen.

Klarer Fall für den Leser: In diesem Buch wird es sich um Missbrauchsgeschichten aus dem Internat drehen und um ihre Verarbeitung, zu erwarten sind Vergeltungsakte traumatisierter Racheengel. Allein dieser Autor erfüllt keine Erwartungen. Er weckt sie, um sie dann kunstvoll zu ignorieren. Oder um die Leser und ihre Erwartungen mit einer vollkommen anderen Wahrheit auszukontern, wie im Beispiel des Jesuiten-Paters, den jedermann vorschnell als Päderasten zu verurteilen geneigt ist. Doch Pérez Vargas entpuppt sich am Ende als Pädagoge, der in der Sexualerziehung zwar sehr unkonventionell zu Werke geht, aber niemals einen Jungen anfassen würde, denn er ist nicht pädophil. Damit sich die Jungs entwickeln können, sorgt er diskret dafür, dass sie mitbekommen, wie das andere Geschlecht aussieht.

Vicente Alfonso: Die Tränen von San Lorenzo. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Unionsverlag, Zürich 2017. 219 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro (Foto: v)

Pérez Vargas bleibt ein Nebendarsteller in der von Randfiguren vollen Geschichte. Viele bleiben schemenhaft, sogar der in die Jahre gekommene Journalist Pepe Zamora. Mit ihm flicht Vicente Alfonso einen eigenen Erzählstrang. Zamora, trockener Alkoholiker, geht dem Kult auf den Grund, nach dem die Provinzbewohner einer mit überirdischen Kräften ausgestatteten Wahrsagerin huldigen, der Niña. Ist etwas dran an den Heilungen, für die ihr die Leute danken, Votivbilder in der Kapelle drapieren und sich die Haarzöpfe abschneiden, um sie danebenzuhängen? Gibt es Wunder? Ist überhaupt etwas dran an irgendeiner Religion? Wer weiß. Dieser Zamora fängt wieder an zu trinken. Doch er bleibt eine Skizze.

Die Frage ist bei Romulus und Remus, wer wessen Opfer geworden ist oder noch wird

Vicente Alfonsos Kunst besteht darin, dass solche Skizzen gerade ausreichen, um einen Bogen über die Geschichte zu spannen. Ihren Reiz macht die Frage aus, wo und wie die Stränge zusammenlaufen werden. Und die Frage, wer wessen Opfer geworden ist oder noch wird. Um Opfer zu sein, muss man weder geschlagen noch getötet werden. Es reicht, mit einem Zwillingsbruder wie Rómulo oder wie Remo geboren zu sein.

Der Erzähler spielt selbst mit. Er fungiert als Remos Psychotherapeut und macht sich damit zu einer handelnden Figur, die ebenso ahnungslos vor dem Patienten sitzt wie die Leser. Der Therapeut scheitert an dem undurchschaubaren Remo und gibt seinen Job auf. Er ermittelt, denn er will wissen, was geschah. Die Zwillinge, oder zumindest einer von ihnen, waren in einen Mord verwickelt. Umgebracht wurde ein weithin bekannter Zauberer. Tatort: die Toilette eines Lokals namens "Zum letzten Schluck". Mit ihm waren die Ayala-Zwillinge unterwegs, nachdem sie aus dem Internat getürmt waren. Zu ihrer fahrenden Truppe gehörte auch das Mädchen, das als Niña die Bauern im Hinterland von Torreón mit Wahrsagereien verrückt machte.

Wie bilden sich Erinnerungen, fragt der Erzähler. "Wenn man mithilfe mehrerer Quellen eine Tatsache wiederherzustellen versucht, ist das, als würde man sich vor einem zersplitterten Spiegel rasieren - was man dabei zu sehen bekommt, stimmt teilweise überein, teilweise überhaupt nicht." So hat Vicente Alfonso auch seinen Roman angelegt: als Folge von Splittern. Wer sich drauf einlässt, sie zu betrachten, erfährt eine bedrückende Geschichte. Fügen sich die Splitter am Ende zu einem Bild zusammen? Das ist der Fantasie überlassen. Es kommt selten vor und es ist ein Glücksfall, wenn ein Krimi zum Weitergrübeln anregt. Der Fall ist gelöst und so viel bleibt noch offen. Packend.

© SZ vom 04.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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