Es ist die immer wieder neue Geschichte von dem einen Tag, der das Leben eines Menschen verändert. Eben noch ist der vierundsechzig Jahre alte Töpfer Cipriano Algor voller Hoffnung auf die Abnahme seiner Tonwaren durch das Tor des "Zentrums" gefahren. Kurz darauf fährt Cipriano wieder hinaus und trägt die Zukunft eines klassischen neuen Arbeitslosen mit sich herum: Der Angestellte des Zentrums, der seine Waren wie immer in Empfang nehmen sollte, hat sie abgelehnt. Der Angestellte ist kein schlechter Mensch. Die Sachen, sagt er, gehen nicht mehr. Die Kunden wollen nur noch die leichte, neue Plastikware, die auch echt aussieht.
Die ganze Kunst des Literatur-Nobelpreisträgers José Saramago, der am Freitag im Alter von 87 Jahren auf der Kanareninsel Lanzarote an einer Lungenentzündung gestorben ist, zeigt sich schon bei Ciprianos Weg in die Stadt, dessen Beschreibung Saramago so knapp wie eindrucksvoll beginnt: "Die Gegend ist dunkel und schmutzig, nicht wert, dass wir sie näher betrachten." Die Wirkung der kühlen Distanzierung durch den Erzähler wird über die ebenfalls "kühle", zerstörte, als gestaltlos gekennzeichnete Umwelt verstärkt: "Die einzige Landschaft, die das Auge auf beiden Seiten der Straße wahrnimmt und die ohne erkennbare Begrenzung Tausende von Hektar einnimmt, sind große, rechteckige, mit Flachdächern versehene Konstruktionen aus einst durchsichtigem Plastik, das die Zeit und der Staub nach und nach braun gefärbt haben."
"Das Zentrum", im Original im Jahr 2000 erschienen, ist einer der typischen Romane Saramagos. Einerseits widmet er sich hier, wie seit jeher, dem Schicksal der so genannten kleinen Leute, andererseits hat er noch im hohen Alter versucht, immer auf der Höhe der Zeit zu bleiben, bloggte bis zuletzt. "Das Zentrum" ist ein Roman gegen Globalisierung, Saramago war ein populärer Mitstreiter der jungen Bewegung Attac. In deren Zentralorgan Le Monde Diplomatique rief er auf zum Überdenken von derart grundsätzlichen Dingen wie der Demokratie, die wir uns selbstgefällig zugute halten, so Saramago, die wir, als Mittel, Einfluss zu nehmen, jedoch kaum mehr nutzen.
Schon Saramagos legendäres Frühwerk "Hoffnung im Alentejo", das 1980 erschien, entstand auf Basis eines Cipriano-ähnlichen Schicksals. Es ist ein Roman über vier Generationen einer Landarbeiterfamilie. Um die Geschichte genau zu recherchieren, quartierte sich Saramago im Dörfchen Lavre ein, dem Wohnort von João Serra, einem Tagelöhner, der selber Aufzeichnungen mit dokumentarischen Zielen verfasst hatte. Viele Wochen lebte Saramago in dem Ort, schrieb morgens. Nachmittags unterhielt er sich mit Serra, der in "Hoffnung im Alentejo" zu João Mau-Tempo wurde. Es sei die Zeit in Lavre, so Saramago später, die ihn zum Schriftsteller gemacht habe.
Am 18. November 1922 als Sohn eines Landarbeiter-Paares im Ribatejo geboren, kam Saramago aus einem verwandten Milieu, schrieb jedoch schon damals nicht über die eigene Familie. Es ging ihm, dem portugiesischen Kommunisten, seit 1969 Mitglied der verbotenen Partei, eher um die Biografie einer Klasse. Womit er zu einem der wichtigsten Exponenten anspruchsvoller anwaltschaftlicher Literatur wurde.
Als Saramago zwei Jahre alt ist, zieht die Familie nach Lissabon. Der Vater wird, ein typischer Landflüchtling, Polizist. Den Gymnasiumsbesuch muss der Sohn mangels Geld abbrechen, er wechselt auf eine Berufsschule, absolviert eine Lehre als Maschinenschlosser. Doch immer wieder kreuzt die Hochkultur Saramagos Weg. Ausgerechnet der Polizeidienst des Vaters ermöglicht ihm den preisgünstigen Besuch von Theater- und Opernaufführungen. Später wird die Stadtbibliothek zum Fluchtpunkt der Abende nach der Arbeit als Maschinenschlosser im Lissabonner Zivilkrankenhaus.
Der linke Kolumnist
Saramago wechselt zum Schreibbüro des Krankenhauses, arbeitet im Büro der Sozialversicherung der keramischen Industrie, lernt aber Mitte der fünfziger Jahre im legendären Cafe Chiado auch Intellektuelle kennen, schreibt Gedichte, wird Journalist bei einer Tageszeitung. Doch nachdem die portugiesische Revolution 1975 die sozialistische Perspektive verliert, wird der linke Kommentator Saramago entlassen. Seine zweite Laufbahn als Romanschriftsteller beginnt.
Immer wieder thematisiert Saramago portugiesische Geschichte, mal mythisch postmodern, mal verbunden mit der Diskussion künstlerisch-politischen Engagements. Der Maler im "Handbuch der Malerei und Kalligraphie" lebt im Umfeld der portugiesischen Revolution. Im "Todesjahr des Ricardo Reis" geht es um die Haltung der Intellektuellen angesichts des Machtantritts von Salazar. Manchmal geht Saramago, etwa in der "Belagerung von Lissabon" aber auch bis ins zwölfte Jahrhundert zurück.
Allen Büchern seit "Hoffnung im Alentejo" gemeinsam ist, dass, jedes auf seine Weise, die beeindruckende Einheit von Leben und Werk Saramagos bezeugt. Wozu allerdings auch Saramagos seither omnipräsenter, vielwisserischer Erzähler gehört, der das verwirrende Geschehen der Handlung gesprächig in verstehbare Bahnen lenkt. Das ist manchmal weniger postmodern als altväterlich, um den Leser besorgt. Saramagos Ziel ist der berühmte kantische Ausgang aus nicht immer selbstverschuldeter Unmündigkeit, der auch sein literarisch überzeugendstes Buch "Die Stadt der Blinden" bestimmt, in dem die Bewohner einer Stadt erblinden, vermutlich, weil sie für vieles blind waren, obwohl sie alles sahen. Hier spielt Saramago seine Stärke, mit wenigen Details eine unheimliche, packende Atmosphäre herzuzaubern, virtuos aus.
Saramago galt, gerade in Portugal, als schwierig. Nach dem Skandal um seinen Roman "Das Evangelium nach Jesus Christus" von 1991, den die Kirche als blasphemisch ansah, verließ der bekennende Atheist mit seiner dritten Frau, der Journalistin Pilar del Rio, das Land, zog nach Lanzarote, ins unbeliebteste Ausland: Spanien. Vergangenes Jahr kam noch einmal ein großes Buch heraus. Saramagos "Kleine Erinnerungen", eine schmale, wunderbare Autobiographie seiner Jugend, die man als Einstieg gut empfehlen kann.