Zum Tod von José Saramago:Seher unter Blinden

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José Saramago widmete sich in seinen Büchern stets den kleinen Leuten - in seinem Land galt der portugiesische Literaturnobelpreisträger als schwierig.

Hans-Peter Kunisch

Es ist die immer wieder neue Geschichte von dem einen Tag, der das Leben eines Menschen verändert. Eben noch ist der vierundsechzig Jahre alte Töpfer Cipriano Algor voller Hoffnung auf die Abnahme seiner Tonwaren durch das Tor des "Zentrums" gefahren. Kurz darauf fährt Cipriano wieder hinaus und trägt die Zukunft eines klassischen neuen Arbeitslosen mit sich herum: Der Angestellte des Zentrums, der seine Waren wie immer in Empfang nehmen sollte, hat sie abgelehnt. Der Angestellte ist kein schlechter Mensch. Die Sachen, sagt er, gehen nicht mehr. Die Kunden wollen nur noch die leichte, neue Plastikware, die auch echt aussieht.

Zum Tod von José Saramago: "Die Gegend ist dunkel und schmutzig, nicht wert, dass wir sie näher betrachten": In diesem Satz zeigt sich schon die ganze Kunst von José Saramago - knapp und eindrucksvoll.

"Die Gegend ist dunkel und schmutzig, nicht wert, dass wir sie näher betrachten": In diesem Satz zeigt sich schon die ganze Kunst von José Saramago - knapp und eindrucksvoll.

(Foto: AFP)

Die ganze Kunst des Literatur-Nobelpreisträgers José Saramago, der am Freitag im Alter von 87 Jahren auf der Kanareninsel Lanzarote an einer Lungenentzündung gestorben ist, zeigt sich schon bei Ciprianos Weg in die Stadt, dessen Beschreibung Saramago so knapp wie eindrucksvoll beginnt: "Die Gegend ist dunkel und schmutzig, nicht wert, dass wir sie näher betrachten." Die Wirkung der kühlen Distanzierung durch den Erzähler wird über die ebenfalls "kühle", zerstörte, als gestaltlos gekennzeichnete Umwelt verstärkt: "Die einzige Landschaft, die das Auge auf beiden Seiten der Straße wahrnimmt und die ohne erkennbare Begrenzung Tausende von Hektar einnimmt, sind große, rechteckige, mit Flachdächern versehene Konstruktionen aus einst durchsichtigem Plastik, das die Zeit und der Staub nach und nach braun gefärbt haben."

"Das Zentrum", im Original im Jahr 2000 erschienen, ist einer der typischen Romane Saramagos. Einerseits widmet er sich hier, wie seit jeher, dem Schicksal der so genannten kleinen Leute, andererseits hat er noch im hohen Alter versucht, immer auf der Höhe der Zeit zu bleiben, bloggte bis zuletzt. "Das Zentrum" ist ein Roman gegen Globalisierung, Saramago war ein populärer Mitstreiter der jungen Bewegung Attac. In deren Zentralorgan Le Monde Diplomatique rief er auf zum Überdenken von derart grundsätzlichen Dingen wie der Demokratie, die wir uns selbstgefällig zugute halten, so Saramago, die wir, als Mittel, Einfluss zu nehmen, jedoch kaum mehr nutzen.

Schon Saramagos legendäres Frühwerk "Hoffnung im Alentejo", das 1980 erschien, entstand auf Basis eines Cipriano-ähnlichen Schicksals. Es ist ein Roman über vier Generationen einer Landarbeiterfamilie. Um die Geschichte genau zu recherchieren, quartierte sich Saramago im Dörfchen Lavre ein, dem Wohnort von João Serra, einem Tagelöhner, der selber Aufzeichnungen mit dokumentarischen Zielen verfasst hatte. Viele Wochen lebte Saramago in dem Ort, schrieb morgens. Nachmittags unterhielt er sich mit Serra, der in "Hoffnung im Alentejo" zu João Mau-Tempo wurde. Es sei die Zeit in Lavre, so Saramago später, die ihn zum Schriftsteller gemacht habe.

Am 18. November 1922 als Sohn eines Landarbeiter-Paares im Ribatejo geboren, kam Saramago aus einem verwandten Milieu, schrieb jedoch schon damals nicht über die eigene Familie. Es ging ihm, dem portugiesischen Kommunisten, seit 1969 Mitglied der verbotenen Partei, eher um die Biografie einer Klasse. Womit er zu einem der wichtigsten Exponenten anspruchsvoller anwaltschaftlicher Literatur wurde.

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